Wir erin­nern an

Von

|

Drucken Drucken

Von Peter J. Betts – «Wir erin­nern an die­se bemer­kens­wer­te Frau, die am 21. Juni 2009 hun­dert­jäh­rig gewor­den wäre, heu­te Abend in der Passage zwei», sagt der Moderator in der Mattinata auf DRS 2 am 25. September. Ein Zweck sei­ner Kurzvorausschau auf das Abendprogramm wäre wohl erreicht wor­den: Der Satz bleibt haf­ten. Auf den zuvor genann­ten Namen hat­te ich nicht geach­tet, ich hat­te mich auf Musikempfang ein­ge­stellt. «Eingestellt?» Nun, gemäss mei­nem Duden Stilwörterbuch (vier­te, neu­be­ar­bei­te­te Auflage, 1956) ist das tran­si­ti­ve oder refle­xi­ve Verb hier wohl nicht falsch gewählt: Pferde kann man zum Beispiel «ein­stel­len», das heisst, unter­brin­gen; Arbeiter kann man «ein­stel­len» oder auf­neh­men; ich könn­te mich zur ange­ge­be­nen Zeit «ein­stel­len», das meint kom­men; ein Gerichtsverfahren oder eine Zahlung kann man «ein­stel­len»; der Gegner das Feuer, was nicht strei­ken bedeu­tet, Arbeiter strei­ken, wenn sie geschlos­sen die Arbeit «ein­stel­len»; man kann einen Vortrag auf die Massen «ein­stel­len», ihn also ent­spre­chend gestal­ten, und – was wohl am ehe­sten hier auf mich zutrifft – man kann einen Fotoapparat (Ich mei­ne das Ding, das mit Filmstreifen gefüt­tert wird und NICHT digi­tal getrimmt ist.) auf ein bestimm­tes Objekt scharf «ein­stel­len». Ich war kei­nes­wegs gegen den Sprecher ein­ge­stellt. (Sie mer­ken, ich miss­ach­te mit «ein­ge­stellt» eine der wich­tig­sten Stilregeln: Wiederholungen mei­den, wie der Teufel das Weihwasserbecken.) Ich hat­te aber Ohr und Herz und viel­leicht Hirn auf Musik ein­ge­stellt. Der vom Moderator geäus­ser­te Satz war, von mir durch­aus unge­wollt, plötz­lich in mei­nem Kopf unter­ge­bracht, wie man frü­her eben Pferde beim Wirtshaus ein­stell­te, gemäss Duden 1956 (Sie erin­nern sich: Ungarnaufstand, 11. 11. 1956, Imre Nagy, Pal Maleter, Triumph der Panzer und vie­le, vie­le auf der Flucht: hier in den Schulen Stricken von klei­nen Wollquadraten, die die Lehrerin zu Wolldecken zusam­men­näh­te, Knaben strick­ten eif­rig mit, die Mitschülerinnen als Hilfslehrerinnen – Kinder sind, wie Frau Meierhofer schon längst gewusst hat­te, idea­le Unterrichtende; die Aktion, eine heu­te zuneh­mend rare Form von Solidarität, hat­te sich im Winter 1956 ganz spon­tan ein­ge­stellt.). Mir geht es in die­sem Text natür­lich nicht über die Sinnvariationen von «ein­stel­len», nicht um ein tran­si­ti­ves oder refle­xi­ves Verb. Es geht nur um ein Attribut. Nur? DRS 2 und die Zuhörenden erin­nern sich an eine «bemer­kens­wer­te» Frau. Gestatten Sie: Gibt es eine Frau, die NICHT bemer­kens­wert wäre? Gibt es ein sol­ches Kind, einen sol­chen Mann? Ein Mensch, der es nicht Wert wäre, bemerkt zu wer­den? Ein unbe­wusst began­ge­ner Fehler des Sprechers? Gut, ich habe Joachim Güntners Glosse (Untertitel: «Vom Aussterben der Glosse»; Haupttitel: «Dies Genre lockt nicht mehr») in der «NZZ» vom 23. September im Feuilleton auch gele­sen. Ich bin mit ihm ein­ver­stan­den, dass die Verfassenden von Glossen oft zu Besserwisserei, auch Schulmeisterei nei­gen (ver­ab­scheue die­se Tendenz, wenn ich sie bei mir sel­ber bemer­ke = zufäl­lig wahr­neh­me), und doch: Dem Mattinata-Sprecher vom 25.9. bin ich dank­bar, dass er mich über das Wort «bemer­kens­wert» stol­pern liess. Die von mir sel­ber began­ge­nen Fehler mer­ke ich, wie die mei­sten übri­gen Leute, auch nicht und wer­de mir des­halb kaum über die­se Fehler und ihre ver­bor­ge­nen Aussagen Gedanken machen. (Es lohn­te sich gele­gent­lich, scheint mir, über die kul­tu­rell gestal­ten­de Kraft von Fehlern nach­zu­den­ken!) Der sich in mei­nem Kopf ein­ge­stell­te Satz liess mich suchen: Bei der Frau in der ein­stün­di­gen Abendsendung han­del­te es sich offen­bar um Marie Meierhofer, die 1998, von allen ziem­lich ver­ges­sen, in einem Pflegeheim starb (im «Schweizerlexikon 91» steht KEIN WORT über Dr. Marie Meierhofer!). Sie war in Turgi in eine Pachtworkfamilie hin­ein­ge­bo­ren wor­den: Ihre Mutter, die zwei­te Frau des Mitbegründers der «Bronzenwarenfabrik AG», wur­de von sei­nem leib­li­chen Sohn und zwei Pflegekindern hef­tig bekämpft; als sie acht Jahre alt war, ertrank Maries zwei­jäh­ri­ger Bruder im Gartenteich – dar­auf woll­te Marie als ein Zukunftsziel ein Haus für arme Kinder bau­en; als sie sech­zehn Jahre alt war, kam ihre Mutter bei einem Flugzeugunglück ums Leben, sechs Jahre spä­ter starb ihr Vater; als Fünfundzwanzigjährige erleb­te sie den Tod ihrer jün­ge­ren Schwester in der psych­ia­tri­schen Anstalt; Marie Meierhofer blieb unver­hei­ra­tet und kin­der­los. Ihr Vater woll­te, dass sie sich nach der Matura als Pilotin aus­bil­den lies­se, wil­lig­te aber ein, dass sie ein Medizinstudium ergriff, dann Kinderärztin wur­de, mit einer Zusatzausbildung in Psychiatrie. Sie wur­de zur Pionierin der Kinderpsychologie in der Schweiz. Ein Biograf bezeich­net sie als «Kind der Krise». Ein wei­te­rer Grund, über das Gestaltungspotential der Krise nach­zu­den­ken. Während des Zweiten Weltkrieges arbei­tet Marie Meierhofer als Rotkreuzärztin. Unter ande­rem ver­steckt sie jüdi­sche Kinder vor den Nazis und ihren Spitzeln – sicher nicht ohne Risiko für sich selbst. Sie hilft beim Aufbau des Kinderdorfes Pestalozzi in Trogen mit – auf die­se Weise kon­kre­ti­siert sich die Absicht der Achtjährigen. Nach dem Krieg wird sie als Stadtärztin in Zürich direkt auch mit den Missständen in Kinderheimen ver­traut. Sie adop­tiert ein Mädchen, um es vor dem Wiedereintritt in das Kinderheim zu ret­ten. Marie Meierhofer hat als Kinderpsychiaterin die Sicht auf das Kleinkind radi­kal ver­än­dert. Der Hygiene als ober­stem Gesetz im Umgang mit Kleinkindern stell­te sie die kör­per­lich-see­li­sche Zuwendung ent­ge­gen. Doch die tra­di­tio­nel­le Medizin an der Universität Zürich ver­wehrt die­ser auf­rüh­re­ri­schen Frau den Zugang – viel­leicht heu­te ver­gleich­bar mit dem Umgang von «Schulmedizin» mit «Alternativmedizin»? Dr. Meierhofer grün­det des­halb mit Weggefährten ein Jahr nach dem Ungarnaufstand eine eige­ne Forschungsstätte, das «In-sti­tut für Psychohygiene im Kindsalter»; heu­te wird die­ses Forschungsinstitut «Marie-Meierhofer-Institut» genannt. Ein Leben, durch Solidarität geprägt. Sie ist ihrer Zeit vor­aus: Bei ihren Therapien von Kleinkindern bezieht Frau Meierhofer die gan­ze Familie und auch die Haustiere ein; bereits in den Fünfzigerjahren hat sie eine Mutterschaftsversicherung ein­ge­for­dert (erst 2004 wur­de die­se Forderung vom Schweizervolk ange­nom­men). Sie ist der Überzeugung, dass Kinder ande­re Kinder brau­chen, und dass Kinder her­vor­ra­gen­de Lehrer und Lehrerinnen sei­en. Im glei­chen Jahr, in dem die Mutterschaftsversicherung ange­nom­men wird, benennt die Stadt Zürich am 20. April die Strecke zwi­schen der Zürichbergstrasse 156 und dem Heubeeriweg als «Marie-Meierhofer-Weg». Nicht lan­ge vor­her hat­te die Universität Zürich sie zur Ehrendoktorin gesalbt… Sicher ein Leben, das nicht ganz all­täg­lich anmu­tet. Die DRS-2-Sendung habe ich lei­der ver­passt. (Es ärgert mich beson­ders aus per­sön­li­chen Gründen, weil offen­bar Ruedi Welten den Text gemacht hat.) Dem DRS-2-Moderatoren bin ich aber für die mich pro­vo­zie­ren­de Ausdrucksweise zutiefst dank­bar: Ich habe des­halb viel erfah­ren. Es braucht oft einen Anstoss. Hätte Newton, wenn ihm wäh­rend des Mittagsschläfchens unter dem Baum nicht ein Apfel auf die Nase geplumpst wäre, wirk­lich so rasch zum Gravitationsgesetz gefun­den? Wäre ihm Leibniz zuvor­ge­kom­men. Immerhin waren die bei­den ein­an­der bereits beim Entwickeln der Infinitesimalrechnung aus geo­gra­fisch siche­rer Distanz schon sehr nahe gekom­men.

ensuite, November 2009

Einen Text gelesen und der hat gefallen? Spende per TWINT ein paar Franken - ohne Abo, aber mit gutem Gewissen. Geht doch auch.



Newsletter

Unsere Newsletter kommt nicht oft und nur dann, wenn etwas wichtig ist. Sie können sich jederzeit wieder abmelden.




Mit der Nutzung dieses Formulars erklärst Du dich mit der Speicherung und Verarbeitung Deiner Daten durch die Schweizer-Newsletter-Software von «ensuite» einverstanden. (CH-Server)

logo