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Wild. Stark. Weiblich. Island

Von Dr. Regula Stämpfli - Bevor wir gen Norden blicken, ein Hinweis auf Deutschland, die­se femi­ni­sti­sche Dunkelgegend im Mai 2020: «Die Frauen wer­den eine ent­setz­li­che Retraditionalisierung wei­ter erfah­ren. Ich glau­be nicht, dass man das so ein­fach wie­der auf­ho­len kann und dass wir von daher bestimmt drei Jahrzehnte ver­lie­ren.» So lau­tet die Bilanz der füh­ren­den Soziologin Jutta Allmendinger am 3. Mai 2020 bei ARD bei der reso­lu­ten Anne Will.

Systemrelevante Berufe sind zu über 72 Prozent Frauenberufe. Während der Corona-Krise arbei­te­ten zwei Drittel der Frauen vor Ort und unter gefähr­li­chen Umständen, wäh­rend zwei Drittel der Männer an Bildschirmen und Medienkanälen die Welt erklär­ten. Und genau dies soll nun den Frauen in Deutschland und über­all auf der Welt wie­der­um nega­tiv aus­ge­legt wer­den?

Die Corona-Krise zeig­te, dass die rea­le Welt, also der kör­per­li­che, wirk­li­che und sinn­li­che Alltag, ohne Frauen nicht zu bewerk­stel­li­gen ist. All die Männer in den Bullshitjobs, die vor­wie­gend damit beschäf­tigt sind, sich gegen­sei­tig wich­ti­ge Studien zuzu­stecken, berech­ne­ten die «Hilfspakete der Regierung», die nicht den Pflegerinnen, Verkäuferinnen, Frisörinnen, Putzpersonal, Care-Arbeiterinnen zu Hause zugu­te­kom­men, son­dern der Autoindustrie. Deutsche Männerstrategien (never mind die Kanzlerin, die war seit Jahrzehnten nur für die Habenden da) ret­ten Banken, Fluglinien, Autoindustrie, kurz: mög­lichst alle Klima- und Demokratiekiller. Kitas, Tagesschulen, Stipendien, ein garan­tier­tes Grundeinkommen für alle und vor allem für die Kulturschaffenden, die über Nacht ent­eig­net wur­den, feh­len. Wiederum – wie anno Bankenkrise 2008/2009 – wer­den die Menschen, die die Welt hegen und pfle­gen, von Männercodes so berech­net, dass der Anteil an Wertschöpfung, Demokratie, Versorgung, Bildung, gesell­schaft­li­cher Friedenssicherung von Frauen und ande­ren Nicht-Habenden unsicht­bar gemacht wird.

Wer trotz­dem demo­kra­ti­sche, femi­ni­sti­sche und teil­ha­be­ge­rech­te Hoffnung schöp­fen will, schaue des­halb nach Norden.

«Wilde Frauen» von der leben­dig-star­ken, humor­vol­len und intel­li­gen­ten Journalistin und Bestsellerautorin Anne Siegel ist so ein Buch. In die­sen Zeiten ver­mit­telt die Lektüre Mut, Freude und Lebenslust. «Islands star­ke Frauen und ihr Leben mit der Natur», so unter­ti­telt Anne Siegel, deren Live-Auftritte legen­där sind und es durch­aus mit Michelle Obama auf­neh­men kön­nen: so viel Charme, Lust und Encouragement – ein­fach super. Ganz grund­sätz­lich soll­ten mehr Frauen gros­se Hallen fül­len mit ihren Ideen, Projekten und Büchern.
Island ist das Land, das an der Spitze des «Gobal Gender Gap»-Reports liegt. Es ist aber noch lan­ge nicht das femi­ni­sti­sche Paradies. Die Philosophin Sigridur Thorgeirsdóttir mahnt denn auch zur Vorsicht. Frauengerechtigkeit herr­sche an kei­nem Ort der Welt. «Wenn die Lage sich ent­wickelt wie bis­her, wird es noch gan­ze 200 Jahre dau­ern, bis in Sachen Einkommen Geschlechtergleichheit auf der Welt herrscht – wenn es dann über­haupt noch Geschlechter gibt! Wahrscheinlich wird es eher Löhne als Geschlechter geben, weil es angeb­lich für uns ein­fa­cher ist, sich das Ende der Menschheit vor­zu­stel­len als das Ende des Kapitalismus.» So steht es im Vorwort zum Buch.

Trotzdem tau­gen die Frauen Islands als wil­de und freie Vorbilder für demo­kra­ti­sche Menschen. Sie sind wild, da die Natur des Landes sich in den Menschen ein­ge­schrie­ben hat und sie fle­xi­bel macht. Sie sind frei, weil Isländer und Isländerinnen ihre eige­ne Gesellschaft bau­en und nicht so sehr auf die Vergangenheit oder gar auf Amerika oder Deutschland schie­len.
Anne Siegel schenkt uns zehn Frauenbiografien Islands; von der Brauerin, der Geothermalpionierin, der Designerin bis hin zu Björk Gudmundsdóttir. Björk ist nicht nur eine aus­ser­ge­wöhn­li­che Musikerin, son­dern auch Erfinderin neu­er digi­ta­ler Musikinstrumente, Modedesignerin, Naturschützerin und ganz klar eine poe­ti­sche Naturgewalt. Als sol­che wird sie aber auch ver­sehrt, als sol­che beschä­digt sie sich auch. Der bit­te­re Sorgerechtsstreit mit ihrem lang­jäh­ri­gen Partner Matthew Barney um die gemein­sa­me Tochter gerät im Porträt von Anne Siegel etwas zu kurz. Denn gera­de die­ser Schatten (den­ken Sie an Angelina Jolie und den üblen Break-up mit Brad Pitt) ver­dien­te es, femi­ni­stisch beleuch­tet zu wer­den. Vielleicht hät­ten wir alle dadurch etwas gelernt: Heterosexuelle Frauen sind immer nur bis zu einer bestimm­ten Grenze «frei und wild». Spätestens bei gemein­sa­men Kindern tre­ten patri­ar­cha­le Muster aus­ser­halb, aber auch inner­halb der Frauen auf. So deu­te ich Björks bemer­kens­wer­te Aussage: «Jede Frau hat ein Recht dar­auf, sich die Brust unter Schmerzen auf­zu­reis­sen und für die Männer und Kinder mit­zu­blu­ten, die dazu emo­tio­nal nicht imstan­de sind.» Ja. Dies soll­te jede Frau beach­ten, wenn sie mit ihrem Mann die Kinderbetreuung tei­len will (und auch Männer, die nicht nur Freizeit-Daddys, son­dern ech­te Väter sein wol­len): Die herr­schen­den patri­ar­cha­len Weltbilder bre­chen manch­mal ganz bru­tal indi­vi­du­el­le Leben. Es wäre noch nach­hal­ti­ger gewe­sen, hier ein­zu­set­zen. Islands Frauen sind weit gekom­men, doch noch lan­ge nicht weit genug.

Anne Siegels Buch bleibt den­noch ein Aufsteller, ein Werk, das gera­de in der Corona-Krise das Herz für Weiten und Freiheiten öff­net. Haben Sie schon mal über den Regen nach­ge­dacht? Ob er von vor­ne oder von oben kommt? «Der Regen in Island, den die wil­den Frauen mei­nen, ist mit­nich­ten das, was wir ken­nen, son­dern besteht aus eisi­gen, peit­schen­den Tropfen, die sich so hart in Nasenlöcher und Gehörknorpel fres­sen und schmer­zen», sodass man die Frage, ob der Regen von vor­ne oder von oben kom­me, sofort ver­steht.

Ich könn­te noch wei­ter von den Frauen und der Autorin Anne Siegel schwär­men. Gehen Sie in Ihre gelieb­te Buchhandlung, bestel­len Sie das Buch, lesen Sie es und schrei­ben Sie anschlies­send zehn Seiten über Ihre eige­ne wil­de und freie Weiblichkeit. Vielleicht gelingt es dann selbst den Frauen in Deutschland oder in der Schweiz, ihre Länder zu ver­än­dern und den unsäg­li­chen Schwesternstreit, der hier­zu­lan­de oft medi­al und bit­ter aus­ge­tra­gen wird, zu been­den. Denn eines lehrt das Buch: Die Voraussetzung, als Frau frei zu sein, liegt in der Eigenständigkeit.

Anne Siegel. Wo die wil­den Frauen woh­nen. Islands star­ke Frauen und ihr Leben mit der Natur. Piper, München 2020