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Wie Pilze aus dem Boden

Von Barbara Roelli – In der Zeit, bevor der Schnee die Erde unter sich begräbt, wuchern sie im feuch­ten Klima – leuch­ten aus dem Unterholz her­vor, oder tar­nen sich im far­bi­gen Laub. Ihr erdi­ger Geruch steigt einem in die Nase, wenn man sich auf einen Waldspaziergang begibt. Bei vie­len wecken sie den Sammlerinstinkt: Die Pilze.

Steinpilzrisotto, Rehschnitzel mit Eierschwämmli, Pastetli mit Morchelrahmsauce. Als Lieblinge der Herbstsaison auf den Schiefertafeln der Restaurants prä­sen­tiert, ver­füh­ren sie noch so man­chen hung­ri­gen Wanderer und genuss­freu­di­gen Ausflügler. Genauso wie Pilze aus dem Boden schies­sen, schei­nen sich seit gerau­mer Zeit auch Nagelstudios spo­ren­ar­tig aus­zu­brei­ten – Geschäfte, wel­che um die Maniküre der Frau oder auch des Mannes besorgt sind. Obwohl ich die künst­le­ri­schen Auswüchse der Maniküre vor­wie­gend bei Frauen beob­ach­te. Ob Frauen mit knapp 20 Jahren oder Frauen um die 60 – das spielt kei­ne Rolle. Fingernägel kön­nen schein­bar in jedem Alter geschnit­ten, gefeilt, lackiert und bemalt wer­den. Schön ist, was gefällt. Im Warteraum auf der Gemeinde sass letzt­hin eine jun­ge Frau neben mir, deren Nägel mit einer dicken Schicht trans­pa­ren­ten Gels bedeckt waren. Über die­sem Gel ver­zier­ten tür­ki­se Glitterlinien die min­de­stens 1,2 cm lan­gen Nägel. Mein Blick hing an die­sen Nägeln, wäh­rend ich mir vor­stell­te, wie die­se Frau mit dem Abwaschschwamm eine Pfanne mit ange­brann­ten Essensresten schrub­ben will. Oder wie sie sich am Rücken krat­zen kann, ohne dass ihr ein Nagel abbricht – oder sie sich damit ins eige­ne oder frem­de Fleisch schnei­det. Praktisch sehe ich kei­nen Nutzen für sol­che Fingernägel. Dies beob­ach­te ich bei Frauen, die bei ihrer Arbeit die Tastatur einer Kasse oder eines Computers bedie­nen müs­sen. Dann durch­zuckt mich regel­mäs­sig ein leich­ter Ekel, wenn die glän­zen­den Nägel mit Nationalflagge, Schmetterlingen, oder neon­pin­ken Punkten ver­schö­nert, auf die Tasten hacken. Höre ich die­ses Geräusch fühlt es sich so an, als wür­de jemand mit den Fingernägeln über die Wandtafel krat­zen. Aber auch ästhe­tisch irri­tie­ren mich lan­ge, gepfleg­te und zum Accessoire gestyl­te Frauennägel.

Und dies noch mehr, seit die H&M‑Plakatkampagne mit einer US-ame­ri­ka­ni­schen Sängerin gestar­tet wor­den ist, die mit las­zi­vem Schlafzimmerblick in die Kamera schaut (ich bil­de mir ein, sie säu­selt dabei den Song «Video Games»). Dabei trägt sie einen flau­schi­gen Pullover in lachs­ro­sa, und dazu, Ton in Ton, haut­enge Hosen. Ihre rech­te Hand legt sie der­weil auf den Oberschenkel, und die Farbe der Haut ver­schmilzt bei­na­he mit dem Pastellton der Hose – wenn da nicht die Fingernägel wären, die über die Fingerkuppen einen geschätz­ten Zentimeter her­aus­ra­gen. Diese an den Enden zuge­spitz­ten Fingernägel sind hell­grau lackiert und glän­zen. Mode war schon immer Geschmackssache: Ich emp­fin­de die Nägel der «Stilikone» schlicht als unap­pe­tit­lich. Weil sie für mich so gar nicht mehr zu die­sem Körper gehö­ren – sie sind Fremdkörper, mit viel Aufwand gehegt und gepflegt. Nicht zu ver­ges­sen, was sich unter die­sen Nägeln alles ansam­meln kann: Körperausscheidungen, Essensreste, Staub, Bakterien.

Ich wer­de nie gefähr­det sein, viel Geld für irgend­wel­che Nailkosmetik aus­zu­ge­ben. Lieber knip­se ich mir die Nägel kurz.

Foto: zVg.
ensuite, November 2012