Wie man einen Welterfolg lan­det. Der Massanzugsartikel (Teil 2)

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(Constantin Seibt) –

Ah, schön Sie wie­der zu sehen, gestärkt durch einen Kaffee und das Wochenende. Letzten Freitag ging es um die Verfertigung von Massanzugsartikeln. Also Artikel, bei denen der Stil den Fakten wie ange­gos­sen passt. Und heu­te geht es um das glei­che. Und es wur­de ver­spro­chen, mit etwas Sauberem und Praktischem zu begin­nen: mit einem Skelett.

(Falls Sie Teil 1 ver­passt haben: Sie fin­den ihn hier.)

Das Skelett eines Artikels als Präparat des Themas

Sehr ele­gant – und sehr arbeits­er­leich­ternd – ist es, das Skelett eines Artikels aus sei­nem Gegenstand her­aus­zu­prä­pa­rie­ren. Und die­ses dann wie­der mit neu­em Leben zu fül­len, wie Dr. Frankenstein. Denn mit einem Skelett ist die Arbeit halb getan. Sie müs­sen dann nur noch das Fleisch häpp­chen­wei­se hin­ein­schrei­ben.

Das ergibt sehr wir­kungs­vol­le Artikel, wie etwa:

  • Bei einem Portrait eines Hobby-Raketenbastlers benutz­te Florian Leu als Struktur sei­ner Zwischentitel den Countdown: Zehn, neun, acht, etc.
  • Mikael Krogerus hetz­te den «Popstar unter den Politberatern» Parag Khanna in 40 Fragen um die Welt. Und schuf rein durch das Tempo ein sehr schö­nes Portrait des Think-Tank-Denkens: glo­bal, tech­no­kra­tisch, cle­ver, ober­fläch­lich.
  • Seine gross­ar­ti­ge, sehr komi­sche Reportage über die Oper struk­tu­rier­te Gion Mathias Cavelty exakt wie das Libretto einer Oper.

Kurz: Wo immer man ein star­kes dra­ma­tur­gi­sches Prinzip in sei­nem Thema ent­deckt, soll man es benut­zen. Bei einem Theaterskandal die 5‑Akt-Struktur, beim Konkurs eines Familienbetriebs die Buddenbrooks, das Essay über Science-Fiction-Stories als Science-Fiction-Story, etc.

PS: Man kann sich das Skelett auch erfin­den, also qua­si aus Plastik her­stel­len: Siehe Eine Konstruktion, so sta­bil wie ein Stahlträger.

Der Stil als Essenz der Erkenntnis

Oft lohnt es sich, bei einer Geschichte die Story her­un­ter­zu­den­ken, bis man zum nack­ten Kern kommt. Etwa: Hier geht es um eine Liebesgeschichte. Oder: ein Märchen. Oder: eine Anklage. Hat man die­sen Kern, ist immer einen Versuch wert, dar­aus Stil und Form abzu­lei­ten. Und bei­des kom­pro­miss­los durch­zu­zie­hen.

Also sich zu fra­gen: Ist das, was man schreibt: eine Plauderei? Eine Polemik? Eine Notiz-Liste? Ein Plädoyer? Eine Verdammung? Ein Liebesbrief? Ein inne­rer Monolog? Ein Theaterstück? Eine Predigt? Ein Märchen? Eine Werbeanzeige? Ein Rezeptbuch? Ein Memorandum? Ein Tagebuch? Ein Protokoll? Ein Krimi? Eine Klatschkolumne? Etc.

Das funk­tio­niert etwa wie folgt:

  • Bei Prognosen etwa bege­ben Sie sich auf das Gebiet der Prophezeiungen. Schreiben Sie die­se im Gestus der Propheten – etwa jener der Bibel. Dann ist ihr Text radi­ka­ler, angreif­ba­rer, wuch­ti­ger und ehr­li­cher zugleich.
  • Bei einem Kommentar zum Aufstieg der Superreichen und Stagnation der Mittelklasse lie­fen die for­ma­len Überlegungen wie folgt: Das, was mich dar­an am mei­sten inter­es­siert, ist nicht das Geld, son­dern der poli­ti­sche Einfluss. In 20 Jahren wer­den Reiche und ihre Erben noch weit deut­li­cher das Sagen haben. Das im Gegensatz zu mei­ner Jugend. Das heisst auch: Was ich damals an Strategien für Leben und Karriere lern­te, ist wert­los. Und das heisst: Ich wer­de mei­nem Kindchen nichts mehr zu sagen haben. So wie die rus­si­schen Aristokraten nach der Revolution 1918 nichts mehr zu sagen hat­ten, weil die Welt, in der sie gelebt hat­ten, nicht mehr exi­stier­te. Die radi­kal­ste, wir­kungs­voll­ste Art, den Text zu schrei­ben, war also nicht ein staats­män­ni­scher Kommentar. Sondern ein Brief an das Baby. (Den Briefanfang fin­den Sie im Teil 2 des Posts «Töte den Tyrannosaurier, aber zie­he dein Baby gross».)
  • Nach dem World-Trade-Center-Attentat 2001 hat­te ich den Job, das poli­ti­sche Klima in der Schweiz zu beschrei­ben. In Presse und Politik domi­nier­ten wil­de­ste Terrorszenarien. Es klang wie Krieg. Also über­leg­te ich, was der Stil des Krieges war. Ganz klar: CNN. Also schrieb ich ein Protokoll im Breaking-News-Stil, in dem wild zwi­schen (lau­ter ech­ten) Statements von Politikern, Sicherheitsexperten, Pressekommentaren hin und her geschal­tet wur­de. Das Resultat war ein schmut­zi­ges Stück para­no­iden Wahnsinns.

Der gröss­te Schwätzer aller Zeiten

Dem glei­chen Prinzip ver­dan­ke ich auch mei­nen ein­zi­gen Welterfolg. Es war einer mei­ner ersten Artikel, und ich war ver­zwei­felt. Dabei war die Aufgabe ein­fach. Ich muss­te für eine Drogenbeilage 4000 Zeichen zu Haschisch ablie­fern. Ich hat­te ver­spro­chen, etwas dage­gen zu schrei­ben. Kiffen lang­weil­te mich. Ebenso das gan­ze Ritual rund­um: die Kennerschaft, die Kreativität, die Kleingärtnerei.

Nachts vor Redaktionsschluss sass ich in den Trümmern von meh­re­ren Anfängen. Einer don­nernd. Einer schnei­dend. Einer anek­do­tisch. Einer plau­dernd. Und alle klan­gen falsch. Ich hat­te irgend­wo einen mas­si­ven Fehler in der Rechnung. Nur wel­chen?

Schliesslich kam ich dar­auf. Das Thema war mir egal. Haschisch war wie weis­se Socken. Ich per­sön­lich moch­te weis­se Socken nicht. Aber wenn sie jemand ande­res trug – war­um nicht? Das hiess: Zu Hasch konn­te ich nichts sagen als: Mich macht es müde, aber das inter­es­siert nicht ein­mal mich. Und das hiess: Ich konn­te nur Schwätzen.

Damit hat­te ich den Kern des Problems. Und damit den Kern des Artikels: Das Schwätzen. Ich frag­te mich, wie Schwätzerei sti­li­stisch aus­drück­bar wäre. Wer war der gröss­te Schwätzer aller Zeiten? Die Antwort lag nahe: Goethe. Er hat­te über alles geschrie­ben.

Also nahm ich einen Band Goethe aus dem Regal, strich Satzkonstruktionen und exo­ti­sche Wörter an und schrieb Goethes Aufzeichnungen zu einem Versuch der Steigerung der poe­ti­schen Existenz beim Hanf-Rauchen, bei wel­chem er und Schiller schlech­te Gedichte schrie­ben.

Darauf ging der Text um die Welt. Er lan­de­te – 1993 noch kor­rekt als Scherz bezeich­net – in der ita­lie­ni­schen «Unità», im «Jornal do Brasil», in der «Zeit», aber bald schon als wah­re Geschichte in Hanfbüchern, ger­ma­ni­sti­schen Dissertationen, Lexika, meh­re­ren wei­te­ren Zeitungen und schliess­lich 1999 soweit oben wie mög­lich: als Tatsache in der Titelgeschichte des «Spiegels».

Die Wirkungsgeschichte fin­den Sie: Hier. Es wur­den mei­ne Hitler-Tagebücher. Obwohl ich beim Verfassen nie an eine Fälschung gedacht hat­te. Denn eigent­lich war es nur eine Schreibtechnik: Das zen­tra­le Problem des Textes – die Schwätzerei – wur­de durch den Stil ange­packt.

Ein Wort zur Wirkung und Warnung

Wie der Dandy auch, wirkt der Massanzugsartikel zwie­späl­tig auf das Publikum. Einerseits anzie­hend. Aber eben­so miss­ver­ständ­lich, ja aggres­si­ons­aus­lö­send.

Der CNN-Artikel über die 9/11-Folgen in der Schweiz etwa fiel völ­lig flach. Obwohl ich ihn für einen mei­ner besten hal­te. Der Grund? Wegen der Ungewohnheit der Form hiel­ten die Leser sämt­li­che – hart recher­chier­te – Aussagen der Politiker und Katastrophenexperten für erfun­den. (Wahrscheinlich hät­te ich anfangs einen Disclaimer schal­ten sol­len: Alles wur­de so gesagt wie geschrie­ben.)

Ärger gab es auch bei der schö­nen Idee, eine Reportage über ein Krimi-Wochenende selbst als Rätselkrimi zu schrei­ben, bei der am Ende der Autor ermor­det wird und der Leser her­aus­fin­den muss: «Wer war’s?» Denn die WOZ druck­te damals das Plakat: «WOZ-Reporter im Grandhotel ermor­det!» Was eini­gen Redakteuren zu fri­vol war. Jemand stahl dann sämt­li­che Plakate, bevor sie aus­ge­hängt wer­den konn­ten. Mit der Begründung: «Und wer wird uns glau­ben, falls wirk­lich ein­mal jemand von uns ermor­det wird?»

Und mein Welterfolg beruh­te letzt­lich ja auch auf einem Missverständnis. Statt als Kritik wur­de der Text als Werk Goethes gele­sen. Und natür­lich als Rechtfertigung ver­brei­tet: Warum dür­fen wir nicht, was schon Goethe tat?

Nein, der Massanzugsartikel ist nur aus­nahms­wei­se erfolg­reich. Schlicht, weil er zu unge­wohnt ist. Trotzdem soll­te man ihn ris­kie­ren. Aus vier Gründen:

  1. Weil er eine Extremposition im Schreiben dar­stellt. Und wie alles Extreme ein Erlebnis und ein Abenteuer ist.
  2. Weil Sie durch frem­den Stil und frem­de Form zu Aussagen kom­men wer­den, die Sie selbst über­ra­schen. Und nichts ande­res ist der Sinn des Schreibens. (Wüsste man vor­her schon, was drin­steht, könn­te man es las­sen.)
  3. Weil Sie durch Experimente damit erfolg­reich wer­den. Denn wirk­lich erfolg­reich sind nicht die radi­ka­len Texte, son­dern spä­ter die Massanzugsartikel light. Bei denen man den Stil nur sanft oder punk­tu­ell dem Gegenstand anpasst. Also die abge­schlif­fe­ne Radikalität. (Es geht die­ser Artikelform so, wie es Kurt Tucholsky ein­mal über James’ Joyces avant­gar­di­sti­sches Meisterwerk «Ulysses» sag­te: «Das Buch ist unge­niess­bar wie Liebigs Suppenextrakt. Aber es wer­den noch vie­le gute Suppen dar­aus zube­rei­tet wer­den.»)
  4. Weil Sie für einen Massanzugsartikel viel­leicht nicht vom Publikum geliebt wer­den. Aber von mir.

Pardon für die­sen mon­strös lan­gen und des­halb in zwei Teil gespal­te­nen Post. Aber es muss­te sein. Denn der Massanzugsartikel ist das Gegenteil von Routine, er ist ein Einfall, also eine klei­ne Geburt. Und damit, wür­de ich sagen, ein klei­ner Sieg über den Tod.

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Dieser Beitag wur­de auto­ma­tisch per RSS auf unse­re Webseite gestellt. Der Originaltext ist über den Tagesanzeiger, dem Blog von Constantin Seibt – http://blog.tagesanzeiger.ch/deadline – zu fin­den.

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