Wie man das Unbekannte im Bekannten ent­deckt

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(Constantin Seibt) –

Früher, auf den ersten Landkarten der Neuzeit, gab es weis­se Flecken. Auf die­sen stand: Hic sunt leo­nes – Hier gibt es Löwen. Und auf die Seekarten schrieb man: Hier gibt es Drachen.

Heute gibt es Satelliten, GPS und Google Earth. Die Welt ist bis zum letz­ten Zentimeter ver­mes­sen. Wikipedia, Zeitungsarchive, Bibliotheken ber­sten vor Wissen. Alles ist gese­hen, gesagt, kom­men­tiert. Und fast alles mehr­mals. Die Entdeckerarbeit ist getan.

Ist sie?

Das Problem vor dem Kaffee

Wie in der letz­ten Folge beschrie­ben, gibt es zwei fun­da­men­ta­le Richtungen der Recherche: Die, das Neue im Verborgenen zu fin­den. Und die, das­sel­be im Offensichtlichen zu tun, durch einen neu­en Blick.

Es ist die­se Sorte Journalismus, die mich fas­zi­niert. Die Schwierigkeit ist hier, zunächst den weis­sen Flecken im besie­del­ten Gebiet zu ent­decken. Bevor man über­haupt die Arbeit star­ten und ihn kar­to­gra­phie­ren kann. Die Frage ist: Wie kommt man aus all dem Wust des Bekannten, des Selbstverständlichen, der Routine wie­der ins Unbekannte?

Genauer: Wie schafft man es, wie­der zu stau­nen, mor­gens um 10, im Büro, als der schon etwas zer­schlis­se­ne Angestellte, der man ist?

Denn das ist der Tretmühlen-Job jedes Qualitätsjournalisten. Es wer­den vie­le Definitionen von Qualität im Journalismus gege­ben: Aktualität, Faktenkenntnis, Fairness, Relevanz. Alle haben den Nachteil, nach Pflichtprogramm zu klin­gen. Und manch­mal lesen die Resultate sich auch so.

Qualität, das ist vor allem eine Haltung. Und ohne den Zauber des Staunens vor der Welt ist Journalismus vor allem Wiederholung. Keinem Menschen von Verstand kann man vor­wer­fen, dafür nicht zu bezah­len.

Okay, aber wie kommt man als Routinemensch dazu, erst halb wach, viel zu gut infor­miert, beim zwei­ten Kaffee?

Nun, es gelingt nicht immer. Aber es gibt ein paar Faustregeln:

1. Suchen Sie Geheimnisse, wo sich alle tum­meln

Sucht man das Exotische, ist das Exotische die fal­sche Adresse. Über die Uranmine in Afrika, den ver­rück­ten Astronauten oder den Hund mit drei Köpfen genügt ein nüch­ter­ner Bericht.

Der Ort, wo es sich zu suchen lohnt, ist das, was alle sehen, alle tun, wor­über alle schrei­ben, was fest steht. Denn die mei­sten Menschen bewe­gen sich durch den Alltag wie Blinde. Sie tun das erstaun­lich geschickt. Aber sie sehen nichts.

Und Sie? Sie natür­lich auch nicht. Sie sit­zen auch nur in einem Büro. Um trotz­dem ein Geheimnis zu ent­decken, lohnt es sich fol­gen­de Liste zu machen:

  • Was sind im Moment die gros­sen Stories? Damit kom­men Sie auf Dinge wie: die Finanzkrise, die US-Verhandlungen, Weihnachten, die Immobilienblase, die schwan­ge­re Prinzessin, der Zeitungstod, etc.
  • Was tun alle? Hart arbei­ten, US-Serien sehen, Twittern, Kinder erzie­hen, etc.
  • Was glau­ben alle? Etwa: Beamten sind büro­kra­tisch, Politiker lügen, Weihnachten wird es gräss­lich, etc.

Es wird eine Liste vol­ler Banalitäten sein. Und das ist wun­der­bar. Denn je bana­ler, desto bes­ser. Nun müs­sen Sie nur noch anfan­gen, die Liste mit ein paar Fragen zu bom­bar­die­ren.

2. Stellen Sie die klas­si­sche Kinderfrage: Warum?

Kinder sind unver­schämt. Sie gehen gern nackt. Gute Journalisten auch.

Denn Unverschämtheit ist mehr als Frechheit. Es bedeu­tet vor allem, Tabus nicht zu ken­nen. Genauer: Sie nicht anzu­er­ken­nen. Und ihre Gültigkeit – wie die ver­fluch­ten Kindchen – Tag für Tag erneut zu testen.

Das gröss­te Tabu in Redaktionen ist, kei­ne Ahnung zu haben. Das lohnt sich zu bre­chen. Obwohl die Versuchung gross ist, sein Nichtwissen zu über­spie­len, um sei­ne Inkompetenz nicht zu ent­blös­sen.

Doch das wäre ein Fehler. Denn dadurch ver­pas­sen Sie die eige­ne Verblüffung, die besten Fragen und gute Stories.

Die erste Frage, mit der Sie Ihre Kollegen oder zumin­dest die obi­ge Liste fol­tern soll­ten, ist die klas­si­sche Kinderfrage: Warum?

Sie führt fast immer von einer bekann­ten Tatsache in eine fas­zi­nie­ren­de Landschaft. Etwa bei fol­gen­den Dingen.

  • Die Deutschen sind für Sparpolitik. Wie man liest, wegen des Traumas mit der Inflation. Nur: Warum? Gibt es so etwas wie Nationaltraumas? Und wenn, war­um ist es die Inflation von 1920? Und nicht die Sparpolitik von 1930, mit den Folgen von Massenarbeitlosigkeit und Hitlers Wahl? Oder betreibt Deutschland nur Interessenpolitik? Und war­um glau­ben die Deutschen, mehr als ande­re zu arbei­ten? Tun sie es über­haupt? Und wenn, wer pro­fi­tiert eigent­lich davon? Etc.
  • Im US-Wahlkampf wird viel gelo­gen. Nur: Warum? Warum wer­den andau­ernd Politiker gewählt, die lügen? Schätzen die Wähler das viel­leicht? Ist es viel­leicht eine Qualität von Politikern, zu lügen? Weil es auch eine Form ihres Job ist, Dinge zu ver­än­dern? Wo darf die Politik lügen, wo wird’s gefähr­lich? Für den Politiker selbst, für das Land? Und wel­che Rolle spie­len die Medien? Und war­um lügt der eine ‑Romney – mehr als der ande­re?
  • Weihnachten ist oft schlau­chend. Nur: Warum? Warum stren­gen einen Verwandte an, selbst wenn man sie liebt? Sind Eltern anstren­gend, weil ihnen alle Versionen von einem – vom Kind bis heu­te – bekannt sind? Oder weil sie einen nicht ken­nen? Verabscheut man gewis­se Familienmitglieder wegen ihrer Fremdheit oder ihrer Ähnlichkeit? Und geht es der Mutter, dem Vater und den Tanten eigent­lich gleich: Dass sie einen auch als anstren­gend, aber unver­meid­lich sehen?

Die drei Beispiele zei­gen: Mit der ein­fa­chen Frage «Warum?» gelangt man innert Minuten von einer asphal­tier­ten Tatsache mit­ten in ufer­lo­sen Morast. Und das ist das Ziel. Denn der Morast ist frisch, er ist das Neue. Das üble Gefühl der Verwirrung im Kopf ist das Zeichen, auf der rich­ti­gen Fährte zu sein. Niemand hat je gehört, dass Entdecker ein beque­mes Leben füh­ren.

3. Stellen Sie die zwei­te Kinderfrage: Wie genau?

Diese Frage führt Sie sel­te­ner in den Sumpf, dafür aber auf direk­tem Weg in die Tiefe des Themas. Und damit fast immer sofort an die Grenzen ihres sicher geglaub­ten Wissens.

Fast jedes Mal ver­wan­delt sich eine Banalität in eine Recherche. Bis sie es wirk­lich wis­sen.

  • Exotische Finanzderivate haben das Finanzsystem desta­bi­li­siert. Nur: Wie genau? Also: Welche? Wer hat sie ent­wor­fen? Und mit wel­chem Plan? Und was pas­sier­te, dass das Zeug toxisch wur­de?
  • Viele ver­stecken Schwarzgeld. Nur: Wie genau? Also: Wer? Wo? Wieviel? Mit wel­chen Konstruktionen? Mit wes­sen Hilfe? Und wel­chen Motiven?
  • Alle sehen US-Serien. Sie sind unglaub­lich gut gewor­den. Nur: Wie genau ist das pas­siert? Also: Wer dreht, wer ent­wirft sie? Was macht ihre Grossartigkeit aus? Und war­um finan­ziert jemand Kunst?

Zugegeben: Die «Wie genau?»-Frage ist weni­ger unor­dent­lich als das «Warum?». Aber als Startrampe für zwei, drei Tage nicht unkom­pli­zier­te Recherche reicht sie fast immer.

4. Drehen Sie Klischees um wie Steine

Klischees sind im Alltag prak­tisch für schnel­le Orientierung. Aber sel­ten die gan­ze Wahrheit. Es lohnt sich immer, über sie nach­zu­den­ken. Etwa:

  • Der Staat ist büro­kra­tisch, die Wirtschaft nicht. Wirklich? Wenn Sie hin­se­hen, wer­den gera­de die gros­sen Konzerne rie­si­ge Bürokratien unter­hal­ten. Und eini­ge Ämter erstaun­lich effi­zi­ent arbei­ten. Und das manch­mal sogar wegen ihrer Langsamkeit.
  • Abzocker-Manager sind gie­ri­ge Egoisten. Wirklich? Agieren sie nicht eher als Herde? Und ist Gier das zutref­fen­de Motiv? Ist es nicht eher: Konvention oder Statusangst? Eigentlich: Phantasielosigkeit? Und ist ihr Zugreifen ein Zeichen der Macht? Oder eine Kompensation der Ohnmacht, an der Spitze zu ste­hen und so wenig steu­ern zu kön­nen?
  • Sozialarbeiter sind Gutmenschen. Wirklich? Die mei­sten, die mir über den Weg lie­fen, sind ziem­lich kla­re, illu­si­ons­freie Leute, die ihre Kundschaft gut ken­nen.
  • Unternehmen gehen plei­te, weil gepfuscht wur­de. Wirklich? Wird nicht in jedem Unternehmen, das man gut kennt (etwa das eige­ne), schreck­lich gewur­stelt? Ohne kla­re Strategie? Dafür mit Widersprüchen und schreck­li­chen Personalentscheiden? Und wenn das so ist: Warum ist dann die Welt so erstaun­lich pfusch­re­si­stent? Und war­um gehen trotz­dem wel­che unter?

Das Wichtige beim Umdrehen von Klischees ist: Man soll­te es nicht mecha­nisch tun. Zwar ist es reiz­voll zu behaup­ten: Das Gegenteil ist die Wahrheit. Beweise wer­den sich dafür schnell fin­den. Nur besagt das nichts. Denn jede noch so absur­de These saugt auto­ma­tisch Indizien an. (Nicht zuletzt, wenn man alles ihr Widersprechendes weg­lässt.)

Widerstehen Sie also die­ser Versuchung. Denn mei­stens ist das Gegenteil von Unfug eben­falls Unfug. Man soll­te Klischees umdre­hen, aber nicht wie der Zauber eine Spielkarte, son­dern wie das Kind einen Stein. Um auf der Rückseite die Maden, Würmer und Ameisen zu betrach­ten, also das Leben dar­un­ter.

Profis sind Profis im Nicht-Profi sein 

Aber natür­lich stim­men Umkehrungen von Klischees ver­blüf­fend oft. Am häu­fig­sten in unse­rem Job, dem Journalismus.

  • Denn nicht das Wissen ist die wah­re Ressource. Sondern das Nichtwissen.
  • Echte Profis erkennt man nicht an ihrer Abgebrühtheit. Sondern an ihrer Naivität.
  • Guter  Journalismus erklärt die Welt, sicher. Aber wirk­lich guter Journalismus tut auch immer das Gegenteil: Er ver­zau­bert sie wie­der.

So. Und jetzt brau­chen Sie und ich, wir schon etwas zer­schlis­se­nen Angestellten, einen wei­te­ren Kaffee.

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Dieser Beitag wur­de auto­ma­tisch per RSS auf unse­re Webseite gestellt. Der Originaltext ist über den Tagesanzeiger, dem Blog von Constantin Seibt – http://blog.tagesanzeiger.ch/deadline – zu fin­den.

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