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Wie eine Zeitung sich neu erfin­den kann: Der rol­len­de Relaunch

(Constantin Seibt) –

In der letz­ten Folge ging es um den ziem­lich spek­ta­ku­lä­ren Relaunch 2003, der die WOZ damals fast in die Luft gesprengt hät­te.

Als einer der Hauptverantwortlichen dafür habe ich seit­her sicher ein Dutzend Stangen Zigaretten zur Decke geraucht, um dar­über nach­zu­den­ken, wie man das Projekt hät­te klü­ger anpacken kön­nen.

Das Problem bei jedem Relaunch besteht aus Folgendem:

  1. Ohne Kühnheit macht er kei­nen Sinn. Ziemlich viel Relaunches sind Kosmetik. Etwa, wenn ein neu­er Chefredaktor im Amt ist. Oder ein alter bewei­sen will, dass er noch tat­kräf­tig ist. Dann wird eine sanf­te Renovation gemacht: Ein neu­es Layout wird instal­liert, eini­ge Kolumnen aus­ge­tauscht, die Bilder wer­den etwas grös­ser etc. Doch das ist nicht mehr als Beschäftigungstherapie für Grafik, Redakteure und Management. Denn der Leser wird davon nichts mer­ken: Nach drei Nummern hat er sich dar­an gewöhnt. Und der Nichtleser, also der künf­ti­ge Kunde, merkt gar nichts. Denn sowohl die Redaktion wie auch das Image einer Zeitung haben den Wendekreis eines Tankers. Eine sanf­te Kurskorrektur ist kei­ne Kurskorrektur.
  2. Sobald der Relaunch sei­nen Namen wert ist, ist er ein Risiko. Ändert man Architektur, Prioritäten, Haltung, Ästhetik einer Zeitung ernst­haft, ver­letzt man einen hoch­kom­ple­xen Organismus. Monate des Kampfes sind garan­tiert, bis die neu­en Routinen lau­fen. Und das Schlimmste: Fehlschläge sind zwar deut­lich spür­bar, aber nicht prä­zis sicht­bar. Denn Fehler im Redaktionsmanagement einer Zeitung – fal­sche Personalentscheidungen, fal­sche Prioritäten, fal­sche Ressourcenverteilung – äus­sern sich nie spek­ta­ku­lär: etwa im Kollaps von eini­gen Seiten. Wird eine Redaktion sinn­los unter per­ma­nen­ten Stress gesetzt, pro­du­ziert sie die glei­che Menge an Artikeln wie gewünscht: aber ein­fach graue, unin­spi­rier­te Ware. Die Zeitung rückt schlicht ein wenig näher an ein Begräbnis, das nicht ein­mal bedau­ert wer­den wird, weil sie zuvor unat­trak­tiv war.
  3. Der Denkfehler bei vie­len Relaunches ist, dass es hier vor allem um Zeitungsarchitektur geht. Also um eine Organisationsfrage. In Wahrheit hat ein gelun­ge­ner Relaunch vor allem sozia­le Ziele: Man will eine neue Haltung bei der Redaktion. Und dadurch bei der Kundschaft.

Kurz: Ein Relaunch ist eine tücki­sche Sache, die ein paar Stangen Zigaretten beim Nachdenken wert ist.

Das schwe­di­sche Modell

Das beste Modell jedoch kam nicht durchs Rauchen; son­dern an einem Ort, wo man nor­ma­ler­wei­se nichts Neues zu Zeitungen erfährt: an einem Zeitungskongress.

Es war beim European Newspaper Congress in Wien, 2009, als zwei sehr gut aus­se­hen­de Schwedinnen ein noch bes­ser aus­se­hen­des Modell vor­stell­ten.

Sie sas­sen in der Chefredaktion des «Svenska Dagbladet». Sieben Jahre davor war die Lage ver­zwei­felt gewe­sen. Das «Dagbladet» war die Nummer 2 in Stockholm, eine bür­ger­lich-kon­ser­va­ti­ve Zeitung mit rund 200 Journalisten und einer Auflage von 200’000. Das Problem war: Die Leserschaft war alt, männ­lich und schrum­pelnd. Und das Blatt war fast plei­te.

Die letz­te Massnahme, ein teu­rer Relaunch von oben mit Umstellung auf Tabloid, war ohne Ergebnis ver­pufft. Und die Chefetage frag­te sich, was tun. Und kam auf eine höchst ori­gi­nel­le Idee: ihr Zielpublikum zu fra­gen – Crew und Kundschaft.

Was heisst: Die Chefredaktion orga­ni­sier­te zwecks Neuerfindung eine brei­te Debatte: mit Experten, mit Redaktion, mit den Lesern.

Und sie tat es nicht für die Gesamtzeitung, son­dern gestaf­felt für ein Problem nach dem ande­ren. Also in über­schau­ba­ren Projekten: ein neu­es Layout, neue Themen (mit dem Ziel: mehr Frauen), neue Sonntagsbeilage etc. Also ein rol­len­der Relaunch.

Die erste Pointe dabei war: Nach einer brei­ten Debatte ent­schied nicht nur am Ende die Chefredaktion. Sondern bei der Debatte kam in etwa auch her­aus, was die Chefredaktion allein für sich ent­schie­den hät­te. Nur mit wesent­lich ande­rer Wirkung als bei einer Top-down-Lösung: Die Auflage stieg mit jedem abge­schlos­se­nen Projekt.

Kurz, die «Dagbladet»-Lösung funk­tio­nier­te bril­lant. Deswegen:

Kurz: Die «Dagbladet»-Methode löst die wich­tig­sten Probleme der Zeitungserneuerung durch den Prozess selbst, der wich­ti­ger ist als die Ergebnisse. Ein Indiz dafür: Die links­li­be­ra­le Konkurrenzzeitung «Dagens Nyheter» ver­such­te eine scham­lo­se Kopie der Blattarchitektur der erfolg­rei­chen kon­ser­va­ti­ven Konkurrentin. Aber eben ohne Befragungen der eige­nen Leute und Leser. Und ohne den gering­sten Erfolg.

Während das «Svenska Dagbladet» sei­ne Auflage von 2002 bis 2009 mit­ten in der Pressekrise um sen­sa­tio­nel­le 10 Prozent stei­ger­te.

Warum Zigaretten trotz­dem unver­zicht­bar blei­ben

Doch das ist die Geschichte bis 2009. In die­sem Jahr ord­ne­te der Eigner des «Dagbladet», der nor­we­gi­sche bör­sen­ko­tier­te Medienkonzern Schibsted, eine erste  Sparrunde an. Die ame­ri­ka­ni­schen Aktionäre woll­ten mehr Rendite. Im Jahr dar­auf folg­te die zwei­te. Die drit­te Runde, Ende 2012, war die bis­her här­te­ste. Das «Dagbladet» strich 60 Stellen, das täg­li­che Kulturmagazin, das hal­be Korrektorat und die kom­plet­te Sportredaktion.

Was dar­aus für umbau­wil­li­ge Redaktionen folgt?

Weiss der Teufel.

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