Wie die Schweiz «Welt» (M)macht

Von

|

Drucken Drucken
Swiss made macht Weltgeschichte

Von Dr. Regula Stämpfli – Schweizer Storys schrei­ben Weltgeschichte: Das klas­si­sche Banken- und Vereinswesen welt­weit ist ohne Eidgenossenschaft fast undenk­bar. Der Verkauf von Menschenfleisch, das von den Söldnern stamm­te, war ein ange­se­he­nes Geschäft. Die Schweizer Obrigkeit, zum Teil damals mit ähn­li­chen Namen wie heu­te, ver­scha­cher­te ihre Untertanen gewinn­brin­gend an die euro­päi­schen Grossmächte. Heutzutage mag dies mit dem Finanzgeschäft ähn­lich lau­fen, denn schon seit je wur­de Geld mit der Verfügung von Raum, Menschen, Tieren, Rohstoffen und ande­ren Realitäten gegen­ge­si­chert.

Selbst nach Marignano 1515, so der Mittelalter-Historiker Valentin Groebner, wur­de mit dem Soldbündnis von 1521 «die Eidgenossenschaft» zu «einer Art Satellitenstaat» Frankreichs. Deshalb sprach man in der Schweiz in den obe­ren Etagen nur fran­zö­sisch und prass­te auf Kosten der fremd­eid­ge­nös­si­schen Soldzahlungen. Von der bit­ter­sten Armut der mei­sten Menschen in der Schweiz bis weit ins 20. Jahrhundert erzählt heut­zu­ta­ge lei­der kein post­ko­lo­nia­ler Privilegienhistoriker – ein gros­ses Versäumnis.

Ohne Schweizer Kriegsmaterial, sei­en es Söldner oder Waffen, wäre die Weltgeschichte anders ver­lau­fen. Die klei­ne Schweiz macht Weltpolitik aber meist im Schatten guter Dienste. Die wohl umstrit­ten­ste Fussball-WM im Jahr 2022 bei­spiels­wei­se hängt direkt mit der Schweiz zusam­men: Die glo­ba­len Milliardenunternehmen wie FIFA, UEFA, IOC u. a. sind in der Schweiz als Vereine und damit sehr harm­los kon­zi­piert. In ihrer Wirkung, den glo­ba­len Sport dank gün­stig­sten Geschäftskonditionen in Diktaturen und Autokratien zu expor­tie­ren, sind die­se Vereine glo­bal und teils sehr anti­de­mo­kra­tisch unter­wegs. Erzählen wir in 50 Jahren unse­ren Enkelinnen, dass wir unse­ren Politikern erlaubt haben, mit Kommerz jede demo­kra­ti­sche Errungenschaft zu ver­let­zen, wer­den sie ent­setzt sein ange­sichts von der­art gras­sie­ren­dem Nihilismus in Kombination mit mone­tä­rem Zynismus. Von den öffent­lich-recht­li­chen Fernsehanstalten, die der­ar­ti­ge Ereignisse mit unse­ren Steuergeldern zusätz­lich pro­mo­ten, will ich gar nicht erst reden. Die Sport-Logiken von Identitäten, Biologie, Ratings, Wachstumswahn, Kommerz zwecks «Brot und Spielen» beset­zen seit Jahrzehnten ohne wirk­li­che Kritik alle Demokratien, Geschlechterapartheid inklu­si­ve; und wer ist dabei immer zuvor­derst? Die Schweiz. Schweizer Geschichte hat seit Jahrhunderten welt­po­li­ti­sche Dimensionen, und es bleibt ein Rätsel, wes­halb unter all den histo­ri­schen Fächern aus­ge­rech­net das der Schweizer Geschichte von den post­ko­lo­nia­len Gender-HistorikerInnen der Universität Zürich abge­schafft wur­de. Ausser – auch hier die zyni­sche Antwort: Vielleicht geht es wirk­lich dar­um, uns allen Sand in die Augen zu streu­en. Dabei ist die Erzählung der Schweizer Geschichte ein genia­les glo­ba­les Anschauungsstück, wie mili­tär­stra­te­gisch wirt­schaft­li­che und inter­na­tio­na­le Finanzziele mit mär­chen­haf­ten Modellstorys der «direk­ten Demokratie» ver­knüpft wer­den kön­nen.

Well, damit wird nun für die Nachkriegszeit von einer frei­en Historikerin auf­ge­räumt. Regula Bochsler hat den besten Kriegs- und Wirtschaftskrimi für die­se Zeit geschrie­ben. «Nylon und Napalm» erzählt inter­na­tio­na­le, mili­tär­stra­te­gi­sche, tech­ni­sche, wirt­schaft­li­che und poli­ti­sche Geschichte am Beispiel eines Industriewerkes, näm­lich der Ems-Chemie. Ihre Recherche ver­weist weit ins 21. Jahrhundert, der rote Faden müss­te nur von jun­gen Historikerinnen auf­ge­nom­men wer­den.

1936 wur­de die Holzverzuckerungs-AG, kurz Hovag, im bünd­ne­ri­schen Domat/Ems gegrün­det. Auf dem Weg zur Holzverzuckerung ent­ste­hen Ethanol und Methylalkohol als Gemisch, das han­dels­üb­li­chen Treibstoff strecken kann. Die Firma von Werner und Rudolf Oswald hat­te einen eher schwe­ren Start und harz­te, um bei Holzmetaphern zu blei­ben, beträcht­lich. Dies änder­te sich dra­ma­tisch nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, als der Treibstoff knapp wur­de. Mittels Vollmachtenregime schiesst der Bundesrat Millionen in den Bau der Fabrik ein und sichert die Abnahme von über 98 200 Tonnen Treibstoff bis ins Jahr 1955. Die Schweizer Regierung offe­riert der Firma mär­chen­haf­te Konditionen: Erstattung der Gestehungskosten inklu­si­ve Verzinsung, Forschungskosten für die Umstellung auf ren­ta­ble­re Produkte und Amortisation. Dies wür­den sich vie­le von Frauen geführ­te Start-ups für 2023 wün­schen, doch: «Dream on.» Eher wird die Schweiz Vollmitglied der EU, als dass in die­ser patri­ar­cha­len Klüngelnation Frauen WIRKLICH ent­schei­den­de Machtpositionen errin­gen. Dies ist auch die Erkenntnis der bis zu die­sem Buch als femi­ni­sti­sche Historikerin täti­gen Regula Bochsler, die völ­lig fas­zi­niert war von dem per­fek­ten Funktionieren des Männer- und Militärstaates Schweiz, der struk­tu­rell unge­stört – das Frauenstimmrecht änder­te dar­an nur wenig – bis zum Fall der Mauer im Jahr 1989 auch als sol­cher agier­te. Für die jün­ge­re Generation hier nur ein klei­ner Hinweis: Bis zur par­la­men­ta­ri­schen Untersuchungskommission 1989, übri­gens von der ersten Bundesrätin ein­ge­setzt, konn­ten staat­lich Beauftragte Gesinnungsschnüffelei betrei­ben und sich als Jäger der «Subversiven» betä­ti­gen, die den Opfern, wie damals in der DDR, den Weg zu einer anstän­di­gen Karriere ver­mie­sten, ohne dass die Opfer wuss­ten, wes­halb ihre Bewerbungen immer frucht­los blie­ben. 1990 hielt der gros­se Literat Friedrich Dürrenmatt die genia­le Rede: «Die Schweiz – ein Gefängnis», wor­auf die anwe­sen­den Bundesräte Dürrenmatt den Handschlag ver­wei­ger­ten.

Doch fah­ren wir wei­ter mit der Hovag und deren Gründern Werner und Rudolf Oswald. Abfallholz und Sägemehl wer­den dank der Bundessubventionen nun bei der Hovag abge­lie­fert; der Kanton Graubünden kriegt fast 1000 neue Industriearbeitsplätze, und der knap­pe Treibstoff kann gestreckt wer­den. «Emser Wasser» heisst der Zusatz, der nach dem Krieg wegen gesun­ke­ner Treibstoffpreise nicht mehr benö­tigt wird. Der Bundesrat sitzt noch jah­re­lang auf einem Deal, der die SteuerzahlerInnen Millionen kostet. Deshalb ist 1956 damit Schluss, die Hovag sucht ver­zwei­felt nach neu­en Industriezweigen inklu­si­ve Finanzierung. Dr. Johann Giesen ist dafür der per­fek­te Mann: Giesen ist ein ehe­ma­li­ger Leiter der IG Farben und in die­ser Funktion als Leiter des Baus des gros­sen Chemiewerkes in Auschwitz tätig. Sie haben rich­tig gele­sen: Auschwitz. 30 000 Menschen fin­den auf der IG-Farben-Baustelle den Tod. Johann Giesen wird in den Nürnberger Prozessen befragt, er behaup­tet, wie Millionen mit ihm, natür­lich nichts von den Vernichtungslagern oder gar von Zwangsarbeit gewusst zu haben. Erstaunlich, denn der mör­de­ri­sche Kommandant von Auschwitz war 1943 zu Besuch bei Johann Giesen. Wie vie­le ande­re fin­det Giesen dann einen neu­en Job in der Schweiz. 1952 ist Giesen im Hovag-Verwaltungsrat, ab 1960 im Verwaltungsrat der Emser Werke, spä­ter Ems-Chemie-Holding. Giesen inspi­rier­te die Hovag zur Herstellung der Kunstfaser Perlon, dem Konkurrenzprodukt von Nylon – hel­ve­tisch unter dem Namen Grilon ver­trie­ben. Die Emser Fabrik wur­de 1983 vom Ziehsohn Werner Oswalds, Christoph Blocher, erwor­ben, des­sen Tochter heu­te die Ems-Chemie-Holding lei­tet. Bis heu­te sind die bei­den Hauptaktionärinnen Rahel Blocher und Magdalena Martullo-Blocher, die gut 60 Prozent der Aktien besit­zen.

So weit die bekann­te Geschichte, die in der Ems-Chemie-Firmenstory bis heu­te fehlt und von der die Blochers unschul­dig mei­nen, dies sei alles vor ihrer Zeit gewe­sen, davon hät­ten sie selbst­ver­ständ­lich nichts gewusst. Das Nicht-Erinnern geht wei­ter in die 1960er- und 1970er-Jahre, und hier wird es so hei­kel, dass selbst die Autorin Regula Bochsler einen Anwalt zur Seite hat, wann immer es um die Storys des Kriegsexportes von Opalm, die­ser schwei­ze­ri­schen Variante von Napalm, geht. Opalm wur­de nach­weis­lich in vie­len Ländern ein­ge­setzt.

Regula Bochsler hat den Sprengstoff die­ser Schweizer Geschichte der Nachkriegszeit minu­ti­ös, wit­zig, ful­mi­nant und span­nend in ein gran­dio­ses histo­ri­sches Werk gepackt. Sie erzählt nicht nur von Johann Giesen, son­dern von ganz vie­len Ex-Nazis. Zum wei­te­ren Personal des äus­sert amü­san­ten und erschrecken­den Schweiz-Werkes gehö­ren zusätz­lich Oberste, über­for­der­te Politiker und son­sti­ge Stiefellecker, Diktatoren, Bürgerkriegs-Agitatoren, Spione und üble Opportunisten, die bis heu­te die Schweizer Elite mit­be­stim­men, und sei es auch nur via mil­li­ar­den­schwe­re Erbschaften.

Bochslers Buch ist auch Sittengemälde einer Männer- Militärgesellschaft, in der selbst die Linken ger­ne mit­ma­chen. Robert Grimm, Held der Arbeiterbewegung in der Schweiz, die lie­ber ihn statt Margarethe Faas-Hardegger ehrt, sass im Aufsichtsorgan der Hovag, küm­mer­te sich aber weder um Nazi-Personal noch um Bilanzen.

Regula Bochsler zeigt, was Journalisten lei­sten kön­nen, wenn sie denn recher­chie­ren und nicht stän­dig ein­an­der kom­men­tie­ren. Sie erzählt die Emser Chemie als Waffenfirma inklu­si­ve Napalmbomben in Bürgerkriegsgebieten der Nachkriegszeit; sie berich­tet von der Schweiz als Nazi-Drehpunkt mit guten Geschäftskontakten zu Fascho-Franco und der kom­mu­ni­sti­schen DDR, sie zeigt, wie das Emser Motto eigent­lich ein Schweizer Motto ist: «Erfolg als Auftrag» – womit selbst­ver­ständ­lich Geld, nicht die Demokratie gemeint ist.
Lesen Sie alle «Nylon und Napalm», und falls Sie Geschichte stu­die­ren wol­len, tun Sie dies doch mit schwei­ze­ri­schen Beispielen, denn hier­zu­lan­de wird auch heu­te noch Weltpolitik gemacht.

Regula Bochsler: Nylon und Napalm. Die Geschäfte der Emser Werke und ihres Gründers Werner Oswald. Hier und Jetzt, Zürich 2022, 592 Seiten. Es gibt zum Buch einen sehr inter­es­san­ten «Rundschau»-Beitrag vom 19. Oktober 2022.

Einen Text gelesen und der hat gefallen? Spende per TWINT ein paar Franken - ohne Abo, aber mit gutem Gewissen. Geht doch auch.



Newsletter

Unsere Newsletter kommt nicht oft und nur dann, wenn etwas wichtig ist. Sie können sich jederzeit wieder abmelden.




Mit der Nutzung dieses Formulars erklärst Du dich mit der Speicherung und Verarbeitung Deiner Daten durch die Schweizer-Newsletter-Software von «ensuite» einverstanden. (CH-Server)

logo