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Wie aus Rosette Alima wur­de

Von François Lilienfeld - Am 24. September 1943 wird Rose Wolczak (auch Rosette oder Reysl genannt) im ehe­ma­li­gen Schulhaus „Les Cropettes“ in Genf inter­niert. Sie ist zwar fran­zö­si­sche Bürgerin, aber als Jüdin in ihrer Heimat gefähr­det. Sie begibt sich daher ille­gal in die Schweiz. Am 29. September fei­ert sie noch Rosch Haschanah, das jüdi­sche Neujahrsfest, am 16. Oktober wird sie schon über die grü­ne Grenze ins besetz­te Frankreich zurück­ge­schickt. Es braucht nicht viel Phantasie, um sich aus­zu­ma­len, was dann mit ihr pas­siert. Diese Fakten ste­hen im Dossier 4928, einer Dokumentensammlung, die lei­der auch vie­le Ungenauigkeiten und sogar Lügen ent­hält. Denn Rose wird als Delinquentin, nicht als Opfer dar­ge­stellt. Die Fünfzehnjährige wird wegen „unmo­ra­li­schen Benehmens“ aus­ge­schafft. Man fand sie eines Morgens unter einer Decke, im Stroh, mit einem jun­gen Mann. Wurde sie genö­tigt, hat sie sich ihm hin­ge­ge­ben, such­te sie nur nach etwas Wärme, Zärtlichkeit, Geborgenheit nach all den schreck­li­chen Erlebnissen? Tatsache ist, dass sie, in die­sem Umfeld vol­ler Promiskuität, wie­der­holt belä­stigt wur­de, von Zivilisten und von Soldaten, sie, die alles ande­re war als eine „femme fata­le“, von Liebeserfahrungen weit ent­fernt. Sie wird oft ver­hört, aber von Anfang an ist sie die Verdächtige; wer glaubt schon einer Ausländerin, mehr noch einer Jüdin?

„4928 ou le Voyage en Suisse de Rosette W.“, von Michel Beretti geschrie­ben und insze­niert, wur­de vom 24. November bis zum 4. Dezember im Théâtre Tumulte in Neuchâtel-Serrières auf­ge­führt. Das beein­drucken­de und erschüt­tern­de Stück ist dop­pelt aktu­ell, ein­mal weil die­se Schicksale nie ver­jäh­ren, dann aber auch, weil unse­re Zeit wie­der unfass­ba­re Flüchtlingstragödien erlebt. Die Geschichte wie­der­holt sich, weil man nicht dar­aus zu ler­nen bereit ist.

Daher kommt wohl auch die über­zeu­gen­de Idee, die Rolle der Rosette mit einer Afrikanerin, der groß­ar­ti­gen jun­gen Schauspielerin Alima Togola, zu beset­zen. Dies ist auch ohne Weiteres mach­bar, da die gan­ze Inszenierung auf einer dop­pel­ten Verfremdung, einem „Theater im Theater“-Effekt auf­ge­baut ist: Der Zuschauer beob­ach­tet eine Theatertruppe, die ein Stück über das jun­ge Mädchen ein­stu­diert. Wem dies nach Brechtschem Lehrstück klingt, sei beru­higt: Berettis Kreation ist bedeu­tend über­zeu­gen­der.

Die Welten über­kreu­zen sich, so in der ergrei­fen­den Szene, in der Alima einem Mitglied der Truppe namens Monique von grau­en­er­re­gen­den Ereignissen in ihrem von Stammesfehden zer­ris­se­nen Land erzählt. Sie will auch wis­sen, wie die Geschichte von Rosette zu Ende gegan­gen ist. Monique ant­wor­tet ihr zunächst mit einem schlich­ten jid­di­schen Wiegenlied.

Ein wei­te­rer Schwerpunkt ist der Monolog von Jean-Philippe, ein Versuch, die Ereignisse zu begrei­fen. Mit einem zen­tra­len Gedanken, der das gan­ze Stück prägt, einem Lossagen von jeg­li­chem Manichäismus: „Ich kann weder die syste­ma­ti­sche Selbstgeisselung noch die Vogel-Strauss-Politik eines Fassaden-Patriotismus ertra­gen.“ Auch in der Schweiz gab es hilfs­be­rei­te und fei­ge Menschen, offen­her­zi­ge und grau­sa­me. Und so stellt denn Beretti die Schuldigen, nament­lich die vier grob­schläch­ti­gen Wachsoldaten, nicht als Ungeheuer dar, ent­deckt in ihnen gele­gent­li­che mensch­li­che Regungen.

Das Stück wühlt auf, und die Aufführung ist mehr als über­zeu­gend. Die Mehrzahl der Akteure sind Laien – an der Qualität, an der Kraft der Umsetzung ändert dies nichts. Die Truppe plant noch eini­ge Vorstellungen für Oberstufenschüler und Gymnasialklassen. Dies wären will­kom­me­ne Ergänzungen zum Unterricht in Geschichte und hof­fent­lich auch ein Wegweiser für eine bes­se­re Zukunft.