Westside: Architektur als Sprache

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Von Anna Roos – Daniel Libeskind defi­niert Architektur als eine Sprache. Der Stararchiteckt mit Studios in New York, Milan und Zürich hat eine eige­ne, star­ke Stil-Handschrift, wel­che er über die letz­ten Jahrzehnte ent­wickelt hat. Man kann sei­ne Gebäude durch die dyna­mi­schen, zer­split­ter­ten Formen gut erken­nen. Andere bekann­te Architekten wie Frank Gehry und Peter Eisenmann und deren Konventionen und Regeln im Modernismus hat er mit sei­nen dekon­struk­ti­vi­sti­schen Visionen kon­fron­tiert.

In sei­nem renom­mier­ten jüdi­schen Museum in Berlin aus dem Jahre 1999 hat Libeskind die archi­tek­to­ni­sche Sprache benutzt, um die grau­en­haf­te Geschichte der euro­päi­schen Juden – die trau­ri­ge Geschichte ist auch jene sei­ner eige­nen pol­ni­schen Familie – zu erzäh­len. Die gequäl­ten Formen hat er als Metapher zum Tumult des Halocausts ver­wen­det. In sei­nem aller­er­sten Shopping-Mall-Projekt konn­te er die­se ver­zerr­te Sprache nun für eine Antithese benut­zen, näm­lich zur Darstellung der Frivolität des Konsums.

Libeskinds Wettbewerbsbeitrag zur «Shopping Mall Westside» gewann im Jahr 2000. Seine Umsetzung hat letz­ten Monat das erste Jubiläum mit gros­sem Prunk und mit Pracht gefei­ert. Wenn man über das Westside-Projekt berich­tet, darf man nicht fra­gen: «Mag ich es oder mag ich es nicht?», son­dern «Was war die Zielsetzung und ist die­se gelun­gen? Was war die Vision?» Libeskind woll­te die Möglichkeiten einer Shopping Mall über­schrei­ten, einen Ort schaf­fen, wo man nicht nur ein­kauft, son­dern wo auch die Freizeit statt­fin­det: Wellness, Sport, Essen, Einkaufen, alles unter einem Dach.

Libskinds Begeisterung über die Marx Brothers, wie sie in einem geschlos­se­nen Shoppingcenter die lee­ren Geschäfte als ihr eige­nes Zuhause benut­zen, war ein cine­ma­ti­scher Reiz für den Entwurf sei­nes ersten Shoppingcenters. Ein ziem­lich ehr­gei­zi­ges Ziel, da die Freizeitmöglichkeiten in der Umgebung von Bern eigent­lich recht viel­fäl­tig sind: Viele öffent­li­che Schwimmbäder, die Alpen und Seen sind gleich «um die Ecke».

Da kom­mer­zi­el­les Zentrum, kann man den Erfolg direkt durch die Besucherzahlen und die gemach­ten Ausgaben ein­schät­zen. Der Eindruck, dass es im Zentrum sehr weni­ge Leute gibt, täuscht. Das eigent­li­che Ziel der ersten Jahre von 700 000 BesucherInnen wur­de bereits über­schrit­ten. 4.2 Millionen Menschen waren bereits im Westside und haben zusam­men 180 Millionen Franken aus­ge­ge­ben. Der inte­grier­te Kinokomplex bie­tet mehr als nur Filme: Man zeigt auch Pop- und Opernkonzerte, Robbie Williams und «New York Met» als Livesendungen auf der Leinwand. 450 000 Tickets wur­den im letz­ten Jahr allein in den neu­en Pathé-Kinos ver­kauft, das sind 30 Prozent des Berner Kinomarktes.

Damit Westside ein Ausflugziel wird, brauch­ten die Erbauer einen «WOW!-Faktor», sie muss­ten einen archi­tek­to­ni­schen Hingucker schaf­fen. Die Architektur prä­sen­tiert sich wie eine 3D-Werbung für das Zentrum – eine Neuheit als ein­zi­ges dekons-truk­ti­vi­sti­sches Gebäude in der Schweiz. Es sieht ein wenig wie meh­re­re im Boden ver­senk­te Kisten aus, wie ein­ge­wickel­te Geschenke, über­ein­an­der gesta­pelt, dann über die Autobahn A1 gewor­fen. Durch die ver­ti­ka­len Latten der Holzverkleidung der Fassade sieht man den dia­go­na­len Unterbau der Verkleidung, was ein fili­gra­nes Muster schafft und die Beleuchtung nachts durch­lässt. Die Fenster sind nachts wie Farbbänder beleuch­tet, geben tages­über Licht und Sicht auf die Landschaft und auf die Autobahn.

Im Gegensatz zu den mei­sten Einkaufszentren bie­tet Westside einen guten Zugang – auch ohne Auto. Statt durch Auto-Landschaften zu schlen­dern, geht man über einen offe­nen Platz in eine drei­ecki­ge Eingangsöffnung hin­ein. Als Haupteingang des gesam­ten Komplexes ist die­ser aller­dings nicht so kraft­voll, wie man dies erwar­ten wür­de. Er ist nicht gross­zü­gig genug. Einmal drin, nimmt man den luf­ti­gen, hoch­kom­ple­xen und frag­men­tier­ten Innenraum wahr. Das Interieur ist dyna­misch: Es gibt kaum einen rech­ten Winkel zu sehen, alles bewegt sich, Stützen und Träger sind schräg. Die ver­gla­sten Leuchtkästen wir­ken wie künst­li­che Kristalle, fil­tern Tageslicht durch das weis­se struk­tu­rel­le Netz; es tut gut, Tageslicht zu spü­ren. Auch die künst­li­che Beleuchtung ist im Konzept inte­griert, die Streifen der Fluoreszenzlichter sind zufäl­lig auf die Decken ver­streut. Eine star­ke Dynamik ergibt sich auch durch die dia­go­na­len, inein­an­der ver­schach­tel­ten Rolltreppen, wel­che die Besucher hoch und run­ter trans­por­tie­ren. Der Effekt der schrä­gen Geometrie erin­nert an Räume eines Science-Fiction-Films. Der Innenraum des Gebäudes ist beson­ders foto­gen, vor allem das Schwimmbad wirkt phan­ta­stisch. Wie ver­scho­be­ne Platten sind die schrä­gen Wände im Zickzack mit weis­sen Treppenbalustraden ver­ziert, die hoch zu den Rutschbahnen füh­ren und die Dreidimensionalität der Räume ver­grös­sern. Die geneig­ten Wände der Bäder erzeu­gen drei­ecki­ge, trich­ter­för­mi­ge Räume. Wie die roten Rutschbahnen vis­ze­ral aus dem Gebäude her­aus­ra­gen, ist lustig, und neben der Autobahn gleich wie­der eine gelun­ge­ne archi­tek­to­ni­sche Werbung für das Angebot des Zentrums.

Es ist eine Herausforderung zu sehen, wie weit man mit der Fragmentierung von Formen gehen könn­te, wie weit im Modernismus. Was man mit den neue­sten Tools wie CAD und CAM (Computer Aided Manufacturing) tech­nisch und gestal­te­risch errei­chen kann, wird hier schön gezeigt. Jetzt ist bewie­sen, dass fast alles mög­lich ist: «The sky is the limit.» Wir müs­sen uns fra­gen, ob dies wirk­lich ist, was wir möch­ten? Trotzdem, ob man das Gebäude mag oder nicht, ist Geschmackssache. Als «Konsum-Architektur» scheint es Erfolg zu haben, Westside ist ein Landmark. Libeskind hat mit sei­ner Architektur als sym­bo­li­sche Art der Sprache die gewünsch­te Botschaft kom­mu­ni­ziert.

Bild: Architekt Daniel Libeskind AG / Burckhardt & Partner AG / Foto: Jan Bitter
ensuite, November 2009

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