Wer sind die Opfer, wer die Täter?

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Von Klaus Bonanomi - Ein Mann liest in der Zeitung sei­ne eige­ne Todesanzeige und erlei­det dar­ob einen schwe­ren Schock. Er liest fort­an kei­ne Zeile mehr, kein Buch und kei­ne Zeitung, kap­selt sich immer von sei­ner Mitwelt ab und wird schliess­lich auch von sei­ner Lebenspartnerin ver­las­sen. Der Mann mel­det sich in der Praxis des Zürcher Psychoanalytikers Mario Gmür. Diagnose: Ein „Medienopfersyndrom in Reinkultur“.

Vor zwei Jahren hat Gmür in einem Buch als erster das soge­nann­te „Medienopfersyndrom“ aus­führ­lich beschrie­ben. Wer in die Negativschlagzeilen der Boulevardpresse gerät oder vor die Kamera eines VJs gezerrt wird, kann in sei­nem Ich und in sei­nem gan­zen Sozialleben zutiefst geschä­digt wer­den. Dies zeigt Gmür an Beispielen von vor­ver­ur­teil­ten Straftätern oder deren Angehörigen, die durch eine ver­let­zen­de, voy­eu­ri­sti­sche und über­trie­be­ne Berichterstattung in Existenzkrisen gestürzt wur­den. Ein aktu­el­les Beispiel: Das Bundesgericht hat vor kur­zem die Wirtschaftszeitung Cash zu einer Million Schadenersatz ver­ur­teilt, weil die­se einen Zürcher Bankangestellten zu Unrecht unsau­be­rer Geschäfte ver­däch­tig­te; der Betroffene erlitt dar­auf­hin einen Karriereknick und konn­te eine in Aussicht gestell­te neue Führungsfunktion nicht antre­ten.

Es ist wich­tig, immer wie­der dar­an zu erin­nern, dass die Medien als „vier­te Gewalt“ tat­säch­lich Gewalt aus­üben und Betroffenen schwe­res Leid zufü­gen kön­nen ob beab­sich­tigt oder nicht. Vor allem aber muss immer wie­der dar­auf hin­ge­wie­sen wer­den, dass die Medien oft­mals nur der Überbringer der Botschaft sind und nicht die eigent­li­chen Schuldigen! Um beim Beispiel der fin­gier­ten Todesanzeige zu blei­ben: Schlimm, dass die Zeitung es ver­säumt hat, den Inhalt der Todesanzeige zu veri­fi­zie­ren; noch schlim­mer ist, was dahin­ter steckt: dass jemand auf ganz per­fi­de Art den Mann schä­di­gen woll­te, indem er die gefälsch­te Todesanzeige auf­gab. Auch beim viel­zi­tier­ten Amoklauf des frü­he­ren Zürcher Baupolizeichefs Günther Tschanun steht am Anfang die Tatsache, dass es in sei­nem Amt tat­säch­lich schwe­re Mängel gab: Kompetenzprobleme, Überforderung, Mobbing. Die Zeitungsberichte dar­über waren der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brach­te; das Fass war aber schon vor­her rand­voll: Und dar­an waren nicht die Zeitungen schuld…

Wenn den Medien ein Maulkorb umge­bun­den wer­den soll, ist die Pressefreiheit in Gefahr. Deshalb ist es wich­tig, wie die Gerichte im Spannungsfeld zwi­schen Privatsphäre und öffent­li­chem Interesse ent­schei­den. Kürzlich hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg auf eine Beschwerde von Prinzessin Caroline von Monaco hin ent­schie­den, dass eine Veröffentlichung von Prominentenbildern, die die­se nur im pri­va­ten Bereich zei­gen, nur dann erlaubt ist, wenn die Betreffenden ein­ver­stan­den sind. Caroline als Medienopfer? Das Urteil gab jeden­falls zu reden: Künftig wer­den wir also unse­re Lieblings-Promis nur noch mit einem Pepsodent-Lächeln auf den Lippen zu sehen bekom­men… Doch Hand aufs Herz: Wer will schon wis­sen, wie es aus­sieht, wenn sich Caroline und ihr Ehemann Prinz Ernst „Haugust“ zan­ken?

Anderseits: Wenn Prinz Ernst August mit 211 Kilometern pro Stunde auf einer fran­zö­si­schen Autobahn geblitzt und mit einem Monat Fahrverbot belegt wird, dann darf dar­über berich­tet wer­den. Wenn ein Raser ob blau­blü­tig oder ein­fach blau fahr­läs­sig Menschenleben gefähr­det, dann über­schrei­tet dies den Rahmen des Privaten; das Berliner Kammergericht hat denn auch unlängst die Journalisten frei­ge­spro­chen, die über die jüng­ste Eskapade des Prinzen berich­tet hat­ten. Und das Zürcher Bezirksgericht hat im ver­gan­ge­nen Monat eine Ehrverletzungsklage von Ex-Swissair-Chef Mario Corti wegen eines kri­ti­schen Textes in der Sonntags-Zeitung abge­wie­sen. Ein Mann in die­ser Position (und mit die­sem Gehalt…) muss sich damit abfin­den, dass er auch ab und zu hart ange­packt wird. Hier steht das Interesse der Öffentlichkeit an einer umfas­sen­den und scho­nungs­lo­sen Berichterstattung über der Befürchtung eines Wirtschaftskapitäns, er könn­te viel­leicht in sei­ner Ehre gekränkt wer­den.

Aus der Serie Von Menschen und Medien
Cartoon: www.fauser.ch

ensuite, Oktober 2004

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