Von Belinda Meier - Das Bühnenbild eine einzige grosse Pfütze, die Szenen nur angedeutet, die Dekoration minimal, die Geschlechter vertauscht – das ist «Parzival» von Lukas Bärfuss, die Schweizer Erstaufführung nach dem Versroman von Wolfram von Eschenbach.
«Parzival», eines der bedeutendsten deutschen Werke mittelalterlicher Literatur, gehört in die Reihe der Artusromane. Das 25‘000 Verse umfassende Werk erzählt die Geschichte Parzivals, der sich vom törichten Knaben zum Gralskönig entwickelt, dabei eine Abenteuerreise voller Höhen und Tiefen durchlebt. Er gerät in viele Konfliktsituationen, tötet und kehrt sich einstweilen sogar von Gott ab. Zentral in Wolframs «Parzival» sind zudem vier Szenen, in denen Parzivals Cousine Sigune um ihren toten Geliebten Schionatulander trauert.
Liebe, Treue und Selbstfindung
Lukas Bärfuss hat dieses imposante Werk für das Theater gekürzt und neu geschrieben. Die Sprache kommt nun in knappen und griffigen Sätzen daher, erzeugt rasante Interaktionswechsel und birgt ein grosses Potenzial an Komik. Die zentralen Themen der Liebe, Treue und Selbstfindung stehen auch in seiner Fassung im Vordergrund. Hier treten sie kompakt, gerafft und damit noch offensichtlicher zutage. Regisseur Matthias Kaschig inszeniert das Stück seit Mitte Dezember 2010 in den Vidmarhallen, und schöpft die Darstellung der bedeutungstragenden Szenen ebenso wie die Möglichkeiten, Komik zu erzeugen, bis zum Letzten aus. Das Resultat: ein modernes Märchen zwischen Abstraktion und fast abstossend wirkender Präsenz, das mit viel Humor und Witz brilliert, die Ernsthaftigkeit der Aussagen dennoch nachhaltig im Zentrum stehen lässt.
Torheit vor Besonnenheit Parzival, gespielt von Milva Stark, wächst in der Einöde auf. Herzeloyde (Marcus Signer), Parzivals Mutter, will ihn vor der Welt schützen, schottet ihn vor ihr ab, wenn nötig auch mit Gewalt. Sie lässt etwa zwitschernde Vögel töten, da ihr Gesang beim Jungen Sehnsuchtsgefühle wecken könnte. Bildung wird ihm verwehrt, weil sie ihn verdirbt. Die Entwicklung bleibt bei Parzival daher aus. Milva Stark beherrscht es bestens, Parzival in allen Facetten seines Wesens zu zeigen: Parzival, der nichts weiss und kann und zeitweise zum nervtötenden «Fröögli» mutiert, der töricht und impulsiv ist, dadurch unentschuldbare Fehltritte begeht, zur Lachfigur wird, aber dennoch schön von Gestalt ist. Als herangewachsener junger Mann will Parzival dann endlich in die weite Welt hinaus. Sein Ziel ist es, Ritter zu werden. Er, der keine Wertvorstellungen und Verhaltensnormen kennen gelernt hat, selbst der eigenen Sprache ohnmächtig ist, da er die Bedeutung der Wörter nicht kennt, richtet auf seiner Reise grossen Schaden an. Wer aber Ritter werden will, muss sich im Kampf, im Benehmen und Betragen bewähren.
Stichwort «âventiure» Was in der Legende das Wunder, im Epos das Schicksal ist, ist im Artusroman die «âventiure». Mit dem mittelhochdeutschen Begriff «âventiure» sind Bewährungsproben des Helden auf alleinigen Abenteuerfahrten und in Kampfduellen in der Fremde gemeint. Ziel der «âventiure» ist es, Ruhm und Ehre zu erlangen oder die Liebe einer Frau zu gewinnen. «Âventiure» ist damit ein Vorgang der Welt- und Selbstbegegnung. Diese Anforderungen an einen Ritter haben in Bärfuss’ «Parzival» keine Bedeutung mehr. Die «âventiure» ist hier zur Farce geworden, denn die Welt von Parzival ist eine verkehrte. Alles ist abgestumpft, die Werte gelten nichts mehr, die Welt ist dreckig, öde und böse. Das im Stück fast durchgehend aufge-griffene Stilmittel des Geschlechtertauschs, dass also Frauen Männerrollen und Männer Frauenrollen spielen, verstärkt das Bild einer aus den Fugen geratenen Welt zusätzlich. Parzival will zwar Ritter werden, weiss aber nicht wirklich, was das heisst. Für ihn zählt einzig und allein das Ergattern einer Ritterrüstung und das Erhalten der Schwertleite durch Artus (Andri Schenardi). Auf welchem Weg und mit welchen Mitteln er dieses Ziel erreicht, ist sekundär. Selbst die Ritter der Tafelrunde, einst ehrenvolle Männer von hohem Status, sind in Bärfuss’ «Parzival» zu verdorbenen und trägen Trunkbolden degradiert. Parzivals Reise ist daher eine Scheinreise, eine Alibireise, in der er zwar tötet, dadurch aber keine Ehre erlangt. Seine Handlungen sind impulsiv, zufällig, unmotiviert und sinnlos.
Die unterlassene Frage Die beherzigten Tipps von Herzeloyde und Gurnemanz (Andri Schenardi) – zwar gut gemeinte und an sich auch nicht verkehrte – richten in dieser verkehrten Welt nur Schaden und Leid an. Parzival, der anfänglich jedem Dahergelaufenen Löcher in den Bauch fragt, bis ihn seine Mutter und Gurnemanz ermahnen, solches Verhalten zu unterlassen, schweigt letztlich angesichts des offensichtlichen schweren Leids, das Anfortas (Marcus Signer) plagt. Er stellt ihm die Frage, was der Grund für sein Leid sei nicht, und verhindert damit die Erlösung Anfortas und aller anderen davon. Auf seiner Reise trifft Parzival zudem viermal auf seine Cousine Sigune, die ihn bei seiner Selbstfindung unterstützt. Henriette Cejpeks Verkörperung dieser um ihren verstorbenen Geliebten trauernden Frau ist beeindruckend, die Trauer fühlbar. Für die nicht gestellte Frage verflucht sie Parzival. Über die Jahre hinweg macht sich dieser also immer wieder selbst schuldig, muss die Konsequenzen ertragen, verliert zeitweise den Glauben und hadert mit seinem Schicksal. Dennoch erhält er eine zweite Chance, aber erst, als er aufgegeben hat, nach Anfortas zu suchen. Erst dann führt ihn das Schicksal ein zweites Mal zum heiligen Gral. Parzival stellt die versäumte Frage, erlöst die Menschheit vom Leid, und wird Gralskönig.
Lukas Bärfuss’ «Parzival» beweist, wie unvergänglich die Themen Wolframs heute noch sind. Von der Struktur des mittelalterlichen Romans gänzlich losgelöst, verknüpft Bärfuss geschickt die Schlüsselszenen zu einem neuen Ganzen, welches das Alte achtet und Neuem Raum für Experimentalität, Modernität und Aktualität bietet. Matthias Kaschigs Inszenierung zeugt von grossem Geschick. Mit Finesse, Raffinesse und dem richtigen Mass Derbheit gelingt es ihm, das vorhandene Potenzial und die Wirkungskraft der Szenen voll auszuloten. Bärfuss’ «Parzival» moralisiert nicht, sondern zeigt am Beispiel der Heldenfigur das Irren, Suchen, und Bestehen in einer Welt, die von festen Normen und Wertvorstellungen geprägt ist, und wenig Toleranz für Andersartigkeit aufbringt; einer Welt, die trotz allem voller Überraschungen steckt und auch Menschen mit schlechten Ausgangslagen am grossen Glück und Erfolg teilhaben lässt.
Foto: Annette Boutellier
ensuite, Februar 2011