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Weltgeschichte im deut­schen Kleingeist: Mengele

Von Regula Stämpfli – Wenn wir die Geschichte nicht wie­der und wie­der ver­han­deln, ver­kom­men wir zu apo­li­ti­schen Apparaten. Oliver Guez hat mit dem „Das Verschwinden des Josef Mengele“ einen packen­den Krimi über den Lagerarzt von Auschwitz geschrie­ben.

Der Roman gibt einen Einblick in die urdeut­sche Gemütlichkeit der nach Südamerika geflo­he­nen Nationalsozialisten. Atemberaubend gibt uns Guez Einblick in die engen insti­tu­tio­nel­len und per­so­nel­len Verstrickungen der alten BRD mit ihren Lieblingsnazis. Wer sich heu­te in Deutschland bewegt, stösst meist mit zwei Klicks auf üble Nazi-Familiengeschichte(N). Adel, Ärzte, Anwälte, Professoren, Kulturbeauftragte, Journalisten – über­all tau­chen bekann­te Familiennamen auf, die schon in den 12 Jahren des orga­ni­sier­ten Massenmordes in Deutschland Karriere gemacht hat­ten. Diese unge­bro­che­ne Geschichte – trotz ent­ge­gen­lau­ten­der Rhetorik – weiss Olivier Guez fas­zi­nie­rend dar­zu­stel­len. Südamerika war (und bleibt) das idea­le Fascho-Exil: Damals von wich­ti­gen Exponenten der BRD kräf­tig unter­stützt. Es wur­de innig Kontakt gepflegt, die Nazi-Familien und deren hohe Exponenten in der BRD tru­gen schliess­lich Sorge zuein­an­der:

„Sassen greift erfreut nach dem Bier, das ihm eine rund­li­che Frau hin­hält, Gregor (Pseudonym Mengeles) begnügt sich mit ein biss­chen Wasser. ‚Du hast Glück’ flü­stert Sassen ihm zu, ‚heu­te Abend ist die gan­ze Hautevolee hier.’ Er deu­tet auf einen Mann, der sich hin­ter einem Spitzbart und einer dunk­len, schwarz­um­ran­de­ten Metallbrille ver­birgt, ‚ Ante Pavelic´, der groa­ti­sche Poglavinik’ (er hat ach­hun­dert­fünf­zig­tau­send Serben, Juden und Roma auf dem Gewissen), von einem Spalier aus Ustascha umringt; ‚Simon Sabiani’, der ehe­ma­li­ge ‚Bürgermeister’ von Marseille, in Frankreich in Abwesenheit zum Tode ver­ur­teilt, ‚ sowie sei­ne Kumpels von der Parti popu­lai­re fran­cais’; ‚Vittorio Mussolini’, der zwei­te Sohn des Duce, zusam­men mit ‚Carlo Scorza’, dem frü­he­ren Generalsekretär der faschi­sti­schen Partei; ‚ Robert Pincemin’ Milizführer im Département Ariège; ‚Eduard Roschmann’, der Schlächer von Riga (dreis­sig­tau­send ermor­de­te let­ti­sche Juden), ‚ange­schickert wie immer’; der Physiker ‚Ronald Richter, der Präsidentenliebling: Er hat ihm ver­spro­chen, als Erster die Kernfusion umzu­set­zen. Perón hat ihm für sei­ne Forschungen eine Insel auf der pata­go­ni­schen Seen zur Verfügung gestellt.“ (S. 38)

Olivier Guez gehört zu den weni­gen Autoren, die es wagen, die Geschichte neu zu ver­han­deln. Damit ermög­licht er, auch über die Zukunft Deutschlands und sei­ner Demokratie ganz anders nach­zu­den­ken.

Die BRD war nicht nur vol­ler Altnazis, die über Nacht vor­ga­ben, zu Demokraten mutiert zu sein, son­dern die Nazis hier und drü­ben eta­blier­ten ein per­fek­tes Netzwerk, das die mei­sten Verbrechen unge­sühnt liess. Bis weit in die 1960er Jahre, ja sogar dar­über hin­aus, pfleg­ten die geschnie­gel­ten Massenmörder im Exil – dank der inof­fi­zi­el­len Unterstützung der BRD – ein gemüt­li­ches, oft auch unglaub­lich bie­de­res und selbst­mit­lei­di­ges Leben. Erinnern wir uns an Eichmann: Ohne den Exiljuristen Fritz Bauer wäre es nie gelun­gen, den Schreibtisch-Massenmörder, einer der Hauptverantwortlichen an der Vernichtung des euro­päi­schen Judentums, einer der unglaub­lich bie­der­sten und bös­ar­tig­sten deut­schen Beamtenklassiker, jemals zur Verantwortung zu zie­hen.

Olivier Guez hat übri­gens auch das Drehbuch zum preis­ge­krön­ten Film „Der Staat gegen Fritz Bauer“ geschrie­ben.

Das Verschwinden von Josef Mengele ist ein ganz gros­ses Buch. Nicht zuletzt, weil es auf vie­le Seilschaften hin­weist, die bis heu­te in Deutschland wir­ken. „Mengele Agrartechnik“ blieb bis weit in die 1980er Jahre, nicht zuletzt dank guter süd­ame­ri­ka­ni­scher Kontakte, ein Milliardengeschäft für Landmaschinen. Erst 2011 ver­schwand der Familienname, 2009 grün­de­te die Familie Mengeles eine Sozialstiftung in Günzburg.

Das Verschwinden von Josef Mengele geht weit über die Familiengeschichte der Mengeles in Günzburg hin­aus und ver­weist direkt ins Herzen der Zeitgeschichte und Gegenwart. Verdikt: Unbedingt lesen!

 

PS: Rolf Mengele, der Sohn Mengeles arbei­tet als Rechtsanwalt in München und hat den Namen sei­ner Frau ange­nom­men. Die Hefte und Exiltagebücher des Schlächters von Ausschwitz wur­den 2011 für zwei­hun­dert­fünf­un­vier­zig­tau­send Dollar ver­stei­gert. Verkäufer und Käufer blie­ben anonym. Pikant.

 

Oliver Guez Das Verschwinden des Josef Mengele, auf­bau, 5. Auflage 2018. Aus dem Französischen von Nicola Denis.

 

Die pro­mo­vier­te Politphilosophin Stämpfli schreibt exklu­siv für ensuite eigen­wil­li­ge, klu­ge, poli­tisch ver­sier­te Rezensionen. Die Hannah Arendt-Dozentin ist Bestsellerautor zu Themen, die im deutsch­spra­chi­gen Raum nor­ma­ler­wei­se nicht von Frauen ver­fasst wer­den dür­fen. Deshalb auch die mönn­li­che Form des Bestsellerautors.