Von Fabienne Naegeli – Das Theater Marie begibt sich auf die Spuren der gesellschaftlichen Vanillisierung
Schon die spanischen Seefahrer im 16. Jahrhundert wussten es – Vanille wird die Welt erobern – und brachten sie von ihren Entdeckungsreisen mit nach Europa. Die Königin der Gewürze, wie sie auch genannt wird, findet sich heute in Schokolade, Kinderspielzeug, Flip-Flops, Babynahrung, Rotwein, Erdbeermarmelade, Kaffee, Kerzen, Backwaren, Parfüms sowie in diversen Pharmazeutika, Milch- und Kosmetikprodukten. Nichts und niemand ist vor ihr sicher, denn sie ist überall drin. Ihr wird eine aphrodisierende und medizinische Wirkung nachgesagt. Wohl dossiert soll sie Abgeschlagenheit bekämpfen und beruhigend auf die Nerven wirken. Manches Wartezimmer bei Ärzten wird damit beduftet – da sie die Angst nehmen soll. Doch oft wird nicht das echte Naturgewürz Vanille verwendet, sondern bloß ihr synthetisch herstellbarer Hauptaromastoff Vanillin. Der Ersatzstoff aus Produkten, die bei der Holzverarbeitung abfallen, ist nämlich wesentlich billiger als echte Vanille, die in Anbaugebieten außerhalb Mittelamerikas, aufgrund der dort fehlenden Vögel und Insekten, personalintensiv mit der Hand bestäubt werden muss. 1874 erfand der deutsche Chemiker Wilhelm Haarmann im niedersächsischen Holzminden das synthetische Vanillin. Das „Betrugsmolekül“ ist chemisch mit menschlichen Pheromonen verwandt und der Aromastoff mit der größten Produktionsmenge auf dem Weltmarkt. Viele Säuglinge bekommen mit Vanillin angereicherte Nahrung. Im Erwachsenenalter brauchen die Menschen dann höhere Dossierungen, weil bereits eine Gewöhnung an den Geschmack eingesetzt hat. Aufgrund der positiven Assoziationen und der Erinnerungen an die Kindheit, die der Vanilleduft weckt, sowie wegen der guten Kombinierbarkeit mit anderen Aromen, lullt uns die Lebensmittelindustrie permanent damit ein. Das Theater Marie, seit vergangenen Herbst unter neuer künstlerischer Leitung, untersucht in ihrem aktuellen Stück „Von der schleichenden Vanillisierung der Gesellschaft“ mit Hilfe von ExpertInnen-Interviews dieses Phänomen der Banalisierung unseres Geschmacks und versüßt den kritisch-humorvollen Theaterabend mit duftenden Gedichten von Friedrich Rückert und romantisch-sehnsuchtsvoller Liedermusik aus dem 19. Jahrhundert von Mahler und Schumann.
„Von der schleichenden Vanillisierung der Gesellschaft“ – ein diskursives Musiktheater
Heute Abend sowie am 10. und 11.5., 20:30 Uhr, im Schlachthaus Theater (Bern) oder am 17. und 18.5., 20:15 Uhr, im Theater Tuchlaube (Aarau)
www.theatermarie.ch
Mit: Michael Glatthard, Philippe Meyer und Pascal Nater. Inszenierung: Olivier Bachmann. Musik: Pascal Nater. Szenografie: Erik Noorlander. Dramaturgie: Patric Bachmann. Regieassistenz: Hans-Christian Hasselmann.