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Weber und Berlioz begeg­nen sich in Bern

Von François Lilienfeld – «Der Freischütz» von Carl Maria von Weber (1786 – 1826) hat nach sei­ner begei­stert auf­ge­nom­me­nen Uraufführung in Berlin, am 18.Juni 1821, einen wah­ren Siegeszug ange­tre­ten und wur­de mehr und mehr als die erste deut­sche roman­ti­sche Oper ange­se­hen. Auch Paris soll­te sie bald ken­nen­ler­nen, zunächst aller­dings (1824) in einer total ver­än­der­ten Fassung durch den berüch­tig­ten «Opernverbesserer» Castil-Blaze, der sich auch schon an Mozarts «Don Giovanni» ver­grif­fen hat­te.

1841 mel­de­te die Grand Opéra ihr Interesse an Webers Urfassung. Allerdings trat da ein Problem auf: Das gespro­che­ne Wort war – bis auf kur­ze Melodramen – auf die­ser Bühne uner­wünscht; Dialoge gehör­ten in die Opéra Comique. Da kam Hector Berlioz zuhil­fe: Er ersetz­te die Dialoge durch von ihm neu­kom­po­nier­te Rezitative, die eini­ge Motive der Oper auf sehr geschick­te Art zitie­ren, so z. B. Teile der Ouvertüre in der Schlußszene.

Das Stadttheater Bern hat nun die erfreu­li­che Idee gehabt, die­se Fassung «aus­zu­gra­ben». Gesungen wird auf deutsch, Berlioz’ Rezitative wur­den vom musi­ka­li­schen Leiter Mario Venzago aus dem Französischen rück­über­setzt. Diese Fassung, mit dem Titel «Freyschütz», hat­te am 20. Okt. 2013 Premiere; ich hat­te die Gelegenheit, die Vorstellung vom 4. Januar 2014 zu besu­chen.

Die Dialoge sind eine Schwachstelle die­ser Oper. Zunächst ein­mal kann man ganz offen fest­stel­len, dass der Librettist Johann Friedrich Kind kein poe­ti­sches Genie war. Außerdem hat das gespro­che­ne Wort eher sei­nen Platz im Singspiel oder in der Spieloper. Selbst Albert Lortzing wird spä­ter in sei­ner ern­sten Oper «Regina» die Dialoge sehr stark redu­zie­ren und die mei­sten Szenen durch­kom­po­nie­ren. Das Reglement der Opéra ver­an­lass­te also Berlioz, aus der Not eine Tugend zu machen. Dem fran­zö­si­schen Komponisten gelang ein Meisterstück: Seine Rezitative pas­sen wun­der­bar in die Oper, ohne dass er sei­nen per­sön­li­chen Stil auf­gab. Vor allem die Agathe/Ännchen-Szenen wer­den durch das Durchkomponieren stark auf­ge­wer­tet. Anstelle einer Reihe von Arien und Liedern ent­steht dra­ma­ti­sche Einheit.

Laut Libretto beginnt die Oper mit einer Szene zwi­schen Agathe und dem Eremiten. Auf Anraten sei­ner Frau, der Sängerin Caroline geb. Brandt, ver­zich­te­te Weber – ungern! – auf die Vertonung. Venzago hat die­se Szene «nach­kom­po­niert», indem er Material aus des Komponisten Erster Symphonie ver­wen­de­te. Das Resultat über­zeugt musi­ka­lisch, und dra­ma­tur­gisch ist die Ergänzung sehr posi­tiv zu wer­ten: Der Eremit spricht von dro­hen­dem Unheil und stellt damit die im näch­sten Auftritt erklin­gen­den «Victoria»-Rufe in einen ande­ren, dem Charakter der Geschichte ent­spre­chen­den Kontext.

Die Regie (Michael Simon) ver­zich­tet kon­se­quent auf eine Biedermeier-Atmosphäre – sogar der «deut­sche Wald» besteht aus Karton. Simon sie­delt die Geschichte klar im Reich der Träume und des Märchens an, und erin­nert damit an den Ursprung des Librettos in der Welt der Volksmärchen. Die sku­ri­len Kostüme in der ersten (in Bern der zwei­ten) Szene pas­sen gut zum Spott im «He he he» – Chor; die häu­fig auf­tau­chen­den, von Chormitgliedern her­um­ge­tra­ge­nen Bildtafeln über­zeu­gen jedoch weni­ger. Gut getrof­fen ist die klau­stro­phob-unwirk­li­che Stimmung in Agathes Kammer, und die Wolfsschlucht-Szene erhielt durch ihre Verfremdung ins Groteske – Brecht hät­te sich gefreut! – inter­es­san­te Dimensionen. Die auf den Bühnenbildern reich ver­tre­te­nen, qual­voll blicken­den Hirsch- und Rehköpfe zeu­gen auch von der Grausamkeit der ver­herr­lich­ten Jagd um der Jagd – und nicht um der Ernährung – wil­len,

Weniger glück­lich war die Entscheidung, das her­un­ter­ge­fal­le­ne Ahnenbild nur «sym­bo­lisch» erschei­nen zu las­sen – Ännchen bemalt ein­fach die Wand neu … Auch der Wegfall des Totenkranzes im «Jungfernkranz»-Lied, der durch einen von der Decke bau­meln­den Riesentierschädel ersetzt wur­de, konn­te nicht über­zeu­gen.

Die «Aufforderung zum Tanz», von Berlioz nach einem Klavierstück Webers mei­ster­haft orche­striert, bil­det in der Pariser Fassung das Vorspiel zum 3. Akt und ist ein musi­ka­li­scher Gewinn. Dass hier ein klas­si­sches Ballett nur schlecht in das Regiekonzept gepasst hät­te, ist klar. Doch wäre eine Aufführung vor geschlos­se­nem Vorhang den unmo­ti­vier­ten Bewegungen der Chorsänger vor­zu­zie­hen gewe­sen. Oder man hät­te den mehr­fach ein­ge­setz­ten, aus­ge­zeich­net gemach­ten Projektions-Zwischenvorhang benut­zen kön­nen. Auch Jägerchor und Finale lit­ten unter den glei­chen Schwächen, bis zum Schluß eini­ge bril­lan­te Regieeinfälle die Inszenierung in über­zeu­gen­de Bahnen zurück­lenk­ten: Agathes Reaktion auf Kaspars Tod – sie legt sich in offen­sicht­li­cher Trauer neben ihn und trö­stet ihn zärt­lich – ergab das Bild eines Menschen, der den ver­schmäh­ten Liebhaber doch nicht ganz ver­ges­sen kann. Trefflich auch der Einfall, dass eini­ge Hauptpersonen sich wäh­rend des Schlusschores abschmin­ken: Der Traum, das Märchen ist zu Ende («La com­me­dia è fini­ta» wird es etwa 7 Jahrzehnte spä­ter bei Leoncavallo hei­ßen…).

Musikalisch war der Abend ein vol­ler Erfolg. Da wäre zunächst das in Höchstform spie­len­de Orchester zu nen­nen, das in die­ser Fassung natür­lich von A bis Z beschäf­tigt ist. Man weiß füg­lich nicht, wen man zuerst erwäh­nen soll: die von Weber arg stra­pa­zier­ten Hörner, die eine wah­re Glanzleistung voll­brach­ten, die klang­vol­len Holzbläser, die mit viel Gefühl und berücken­dem Klang gespiel­ten Cello-Soli (Agathes Cavatine «Und ob die Wolke sie ver­hül­le», sowie die «Aufforderung»), oder das vir­tuo­se Bratschen-Solo in Ännchens Traumerzählung … Vor allem aber erhielt man den Eindruck eines geschlos­se­nen, mit vol­ler Hingabe spie­len­den Klangkörpers. Das Resultat wur­de nicht zuletzt durch Mario Venzagos sou­ve­rä­ne Leitung ermög­licht. Klarheit und Schwung kenn­zeich­nen sei­ne Interpretation, auch wenn ich die Ouvertüre als etwas zu forsch emp­fand. Doch, sobald der Vorhang sich geöff­net hat­te, fand er zu logisch sich erge­ben­den Tempi. Die Rezitative füg­ten sich naht­los ein.

Das Liebespaar Agathe/Max gehört zu den schwie­rig­sten Rollen über­haupt: Verlangt wer­den zwar zwei lyri­sche Stimmen, die jedoch oft Dramatisches zu lei­sten haben. Dieses «Zwischenfach» wird immer schwie­ri­ger zu beset­zen: Die «Lyriker» gehen ihm aus dem Weg oder sind über­for­dert, die «Dramatiker» lan­den bei Wagner. In Bern hat­ten wir das Glück, einer idea­len Besetzung zu begeg­nen:

Bettina Jensen als Agathe ist ein Ereignis. Sie ist weit ent­fernt von der Figur der «schwär­me­risch-from­men, fast madon­nen­haft gezeich­ne­ten Agathe» die Hermann Abert beschreibt (Vorwort zur Peters-Taschenpartitur). Hier haben wir eine von Zweifeln und Ängsten gepei­nig­te, lei­den­schaft­lich lie­ben­de Frau, bei der eine (kaum) ver­dräng­te Sexualität immer wie­der zum Vorschein kommt. Ihr dyna­mi­sches Spektrum, ihr Durchhaltevermögen in der gro­ßen Arie des zwei­ten Aktes, ihre dra­ma­tisch über­zeu­gen­de stimm­li­che Gestaltung, die nie den Boden schö­nen Gesangs ver­läßt, ver­hal­fen dem Abend zu abso­lu­ten Höhepunkten. Wie ger­ne wür­den wir sie als Donna Anna erle­ben…

Auch Tomasz Zagorski als Max ist eine Ausnahmeerscheinung. Dass ein Tamino und Don Ottavio die anstren­gen­de Tessitura die­ser Rolle mei­stert, ohne sei­ne lyri­sche Stimme zu ver­ra­ten, ohne Drücken und Schreien, ein Max, der vom fein­sten pia­no-lega­to zum Verzweiflungsausbruch gehen kann, ist im Zeitalter der fest­ge­leg­ten «Fächer» eine Rarität.

Ännchen (Yun-Jeong Lee) war nicht nur keck, son­dern spiel­te ihre Rolle als Vertraute, die Glück und Sorgen ihrer Agathe voll teilt, mit Überzeugung und stimm­li­cher Meisterschaft.
Pavel Shmulevich (Kaspar) ist ein Doppeltalent. Nicht nur, dass er über eine ein­drucks­vol­le und intel­li­gent ein­ge­setz­te Baßstimme ver­fügt, er hat auch ein­deu­tig tän­ze­ri­sche Veranlagungen; sei­ne akro­ba­ti­sche Körperbeherrschung, vor allem in der Wolfsschlucht-Szene, ist wahr­lich beein­druckend.

Alle «klei­nen» Rollen waren sehr gut besetzt – eine ech­te Ensembleleistung!
Einmal mehr hat das Berner Stadttheater gezeigt, dass die Musikgeschichte noch vie­le Kostbarkeiten ent­hält, deren Aufführung sich lohnt – ins­be­son­de­re, wenn die Qualität des Dargebotenen so hoch ist!

Foto: zVg.
ensuite, Februar 2014