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Was Journalismus heisst, ist in Wirklichkeit zuneh­mend Konsumberatung.»

[persönlich.ch // 2.5.2011] In den letz­ten Jahren ver­bann­ten vie­le Tageszeitungen die Kulturberichterstattung in Randspalten. In die so ent­stan­de­ne Lücke springt nun der Blog www.kulturkritik.ch. Hier liest man Rezensionen zu Tanz‑, Theateraufführungen oder Lesungen. Geschrieben wird aber nur, wenn der Veranstalter zahlt. Warum könn­te die­ses neu­ar­ti­ge Geschäftsmodell Schule machen? «persoenlich.com» hat beim Initiant Stefan Schöbi nach­ge­fragt. Zum Interview:

Herr Schöbi, Sie sind nicht ein­ver­stan­den mit der Haltung der Schweizer Verlage. Zu tra­di­tio­nell ori­en­tiert und mut­los sei­en sie. Was genau mei­nen Sie damit?
– Viele Verlage lösen das erste Problem auf Kosten des zwei­ten: Redaktionelle Textsorten wer­den zuneh­mend zu bezahl­ten Dienstleistungen. Was Journalismus heisst, ist in Wirklichkeit zuneh­mend Konsumberatung. Die Entwicklung geht hier mei­nes Erachtens genau in die fal­sche Richtung. Die all­ge­mein hohe Verfügbarkeit von Information in Zeiten des Web 2.0 lässt das Bedürfnis nach «was­ser­dich­ter» redak­tio­nel­ler Berichterstattung wie­der wach­sen. Beim drit­ten Problem, den Leserbedürfnissen, ver­las­sen sich die Verlage in der Regel auf Marktforschungsinstitute. Mediennutzungsanalysen zie­hen ein kla­res Fazit: Feuilleton-Themen sind Quotenkiller. Dieser Schluss greift aber defi­ni­tiv zu kurz.

Ihr Credo lau­tet: «Kritiken sind käuf­lich. Kritiker aber nicht.» Wie zeigt sich die­ser Grundsatz bei kulturkritik.ch?
– Der erste Teil des Credos ent­hält das Geschäftsmodell von Kulturkritik: Das Interesse an Kulturberichterstattung geht pri­mär vom Veranstalter aus, also finan­ziert er sie auch. Der zwei­te Teil des Credos betrifft die redak­tio­nel­le Glaubwürdigkeit. Der Veranstalter kauft sich mit der Kritik kein redak­tio­nel­les Mitspracherecht wie etwa bei einer Publireportage. Im Gegenteil: Seine Investition in Kulturberichterstattung ist nur nach­hal­tig, wenn die redak­tio­nel­le Unabhängigkeit durch ent­spre­chen­de Massnahmen sei­tens der Herausgeberschaft sicher gestellt wird.

Sie grün­de­ten kulturkritik.ch 2009 als Kulturblog, der das loka­le Zürcher Kulturgeschehen kri­tisch kom­men­tiert. Wer sind die Autoren?
– Die Redaktion von kulturkritik.ch besteht aus frei­en Mitarbeitenden, die auf­grund ihrer Ausbildung, beruf­li­chen Tätigkeit oder ihrer Freizeit ein pro­fun­des Interesse an jour­na­li­sti­scher Tätigkeit in der Zürcher Kulturberichterstattung besit­zen. Ein beträcht­li­cher Teil davon sind Studierende in Kommunikation, Sprachen, lite­ra­ri­schem Schreiben oder Art Education. Aber auch ein Drehbuchautor, eine Theaterassistentin oder ein Sozialpädagoge schrei­ben für kulturkritik.ch.

Wie ist die Redaktion orga­ni­siert?
– Die Mitglieder tref­fen sich in unre­gel­mäs­si­gen Abständen, mei­stens fin­det der Kontakt jedoch über das gegen­sei­ti­ge Lektorieren der Texte statt. Da sämt­li­che Prozesse über ein Webinterface abge­wickelt wer­den, ent­steht kaum admi­ni­stra­ti­ver Aufwand. Der Veranstalter schreibt selb­stän­dig eine Veranstaltung zur Kritik aus und initi­iert damit einen IT-gestütz­ten Workflow, der schliess­lich mit der Publikation der Kritik abge­schlos­sen wird.

Das gegen­sei­ti­ge Lektorieren ist eine Qualitätsmassnahme. Gibt es wei­te­re?
– Genau. Auf Kulturkritik wird kein Text ohne vor­an­ge­hen­des Lektorat publi­ziert. Damit unter­schei­det sich die Plattform von vie­len ande­ren Online-Medien und sogar von ein­zel­nen Online-Portalen gros­ser Tageszeitungen. Innerhalb der Redaktion regelt ein Stufenmodell den Zugang. Neue Redaktionsmitglieder wer­den von den erfah­re­nen beglei­tet und erst nach ein bis drei Testkritiken in die Redaktion auf­ge­nom­men. In Zukunft wer­den wir das jour­na­li­sti­sche Handwerk aus­ser­dem durch ein Workshop-Angebot zu ver­bes­sern suchen.

Welche Veranstalter inter­es­sie­ren sich?
– Kulturveranstalter sind auf Kulturberichterstattung ange­wie­sen; wo sie die­se nicht von allei­ne in genü­gen­dem Masse erhal­ten, wer­den akti­ve Bemühungen ergrif­fen, die «Coverage» zu ver­bes­sern. Ein aku­tes Interesse besteht bei­spiels­wei­se auf Seiten von Theaterhäusern mit regem Gastspielbetrieb, wie etwa dem Theaterhaus Gessnerallee. Ohne regel­mäs­si­ge Berichterstattung wür­den gewis­se Truppen dort nicht mehr gastie­ren, da eine Tournee von der loka­len Kritik zehrt, die ihr auf den Weg mit­ge­ge­ben wird. Daneben gehö­ren auch klei­ne­re Off-Veranstaltungsorte, wel­che von den Tageszeitungen ohne­hin wenig berück­sich­tigt wer­den, zu unse­ren Kunden.

100 Franken bezah­len Veranstalter für eine Vorschau und eine Rezension. Sind die Veranstalter tat­säch­lich bereit für Berichterstattung zu bezah­len?
– Verglichen mit den Kosten für ande­re Kommunikationsmassnahmen, wel­che einem Kulturbetrieb heu­te zur Verfügung ste­hen, stellt die­ser Betrag eine klei­ne Investition dar. Allerdings sehen dies nicht alle Veranstalter so. Wir sind auch auf Veranstalter gestos­sen, die lie­ber wei­ter­hin in gros­sem Stil Programmhefte und Flyer drucken, statt ein neu­es Instrument aus­zu­pro­bie­ren.

Die Kunden zah­len auch bei nega­ti­ver Kritik.
– Ja. Bisher haben wir damit aus­schliess­lich gute Erfahrungen gemacht. Mehrere Veranstalter haben uns sogar gebe­ten, här­ter mit ihnen ins Gericht zu gehen. In einem Fall ver­an­lass­te eine unse­rer Kritiken einen Veranstalter dazu, ein Format zu über­den­ken; es wur­de schliess­lich erfolg­reich neu posi­tio­niert. Solche Erfahrungen bestär­ken uns in der Überzeugung, dass die Nachfrage nach ech­ter Kritik vor­han­den ist.

Wer sind die Leser?
– Wir haben lei­der noch kein prä­zi­ses Bild eines Lesers von kulturkritik.ch. Unsere Webstatistik sagt uns, dass wir durch­schnitt­lich etwa 500 Unique Visitors pro Kritik haben, mit einer Verweildauer, wel­che auf eine auf­merk­sa­me Lektüre hin­deu­tet. Derzeit erar­bei­ten Studierende der Masterstudienrichtung publi­zie­ren & ver­mit­teln der ZHdK Massnahmen, mit denen sich das Bild die­ser Leserschaft schär­fen lies­se. Allgemein gilt aber: Die Rolle der Leser von Kulturberichterstattung muss noch geklärt wer­den.

Man kann Kulturkritik abon­nie­ren. Nutzen Sie auch Twitter und Facebook?
– Vor kur­zem haben wir Möglichkeiten zur Verbreitung unse­rer Texte über die Social Media geschaf­fen. Sie sind Teil unse­rer Bemühungen, die per­sön­li­che Empfehlung als Lektüremotiv von Kulturberichterstattung ernst zu neh­men. Es wird sich zei­gen, inwie­fern die­ser Ansatz erfolg­ver­spre­chend ist.

Mit wel­chem Budget arbei­ten Sie?
– Der Kritikbetrieb ist dank dem Businessmodell selbst­tra­gend; der­zeit wer­den jähr­lich knapp 5’000 Franken an Autorenhonoraren umge­setzt. Da kulturkritik.ch kei­nen redak­tio­nel­len Overhead betreibt, ent­ste­hen kei­ne wei­te­ren Betriebskosten. Der Ertrag kommt also voll­um­fäng­lich den Journalisten zugu­te. Das Projekt ist inner­halb der Zürcher Hochschule der Künste im Master Art Education ange­sie­delt. Die ZHdK stellt die Programmierung der Seite und den tech­ni­schen Betrieb sicher. Daneben schät­zen wir uns glück­lich, dass von allen Seiten auch unent­schä­dig­te Freiwilligenarbeit für das Projekt gelei­stet wur­de.

Könnte Ihr Finanzierungsmodell auch auf ande­re jour­na­li­sti­sche Online-Plattformen über­tra­gen wer­den?
– Als Kultur-Blog unter­sucht kulturkritik.ch seit Februar 2010 die Funktionsweise und die Rahmenbedingungen des heu­ti­gen Kulturjournalismus unter Life-Bedingungen. Das Geschäftsmodell von kulturkritik.ch funk­tio­niert, wenn die Plattform eine kri­ti­sche Zahl von Leserinnen und Lesern erreicht. Das Modell ist grund­sätz­lich über­trag­bar: auf ande­re kul­tu­rel­le Einzugsgebiete, auf ande­re Plattformen oder auf ande­re Branchen. Im Moment berei­ten wir des­halb Pilotversuche in Textsharing mit je einem Online- und einem Print-Kulturmagazin vor.

Wie geht es nun wei­ter?
– Kulturkritik ist ein Experiment. Als sol­ches ist es in der Plattform Kulturpublizistik der Zürcher Hochschule der Künste behei­ma­tet, wel­che Projekte und Akteure im Schnittfeld Kultur und Medien ver­netzt. Am 1. und 2. September wird der Kulturmedienwandel im Rahmen einer Tagung reflek­tiert. Durch das Dach der Plattform Kulturpublizistik ist gewähr­lei­stet, dass die Erkenntnisse aus dem Experiment kulturkritik.ch in den Fachdiskurs zurück­flies­sen und auch ande­ren Akteuren zur Verfügung ste­hen. Wir arbei­ten nach dem Motto, dass uns auch das Scheitern wei­ter­brin­gen kann, wenn wir Neues kon­se­quent genug aus­pro­bie­ren.

 

Warum Kultur Kritik braucht: der Spot

 

Interview: Edith Hollenstein