Herr Schöbi, Sie sind nicht einverstanden mit der Haltung der Schweizer Verlage. Zu traditionell orientiert und mutlos seien sie. Was genau meinen Sie damit?
– Viele Verlage lösen das erste Problem auf Kosten des zweiten: Redaktionelle Textsorten werden zunehmend zu bezahlten Dienstleistungen. Was Journalismus heisst, ist in Wirklichkeit zunehmend Konsumberatung. Die Entwicklung geht hier meines Erachtens genau in die falsche Richtung. Die allgemein hohe Verfügbarkeit von Information in Zeiten des Web 2.0 lässt das Bedürfnis nach «wasserdichter» redaktioneller Berichterstattung wieder wachsen. Beim dritten Problem, den Leserbedürfnissen, verlassen sich die Verlage in der Regel auf Marktforschungsinstitute. Mediennutzungsanalysen ziehen ein klares Fazit: Feuilleton-Themen sind Quotenkiller. Dieser Schluss greift aber definitiv zu kurz.
Ihr Credo lautet: «Kritiken sind käuflich. Kritiker aber nicht.» Wie zeigt sich dieser Grundsatz bei kulturkritik.ch?
– Der erste Teil des Credos enthält das Geschäftsmodell von Kulturkritik: Das Interesse an Kulturberichterstattung geht primär vom Veranstalter aus, also finanziert er sie auch. Der zweite Teil des Credos betrifft die redaktionelle Glaubwürdigkeit. Der Veranstalter kauft sich mit der Kritik kein redaktionelles Mitspracherecht wie etwa bei einer Publireportage. Im Gegenteil: Seine Investition in Kulturberichterstattung ist nur nachhaltig, wenn die redaktionelle Unabhängigkeit durch entsprechende Massnahmen seitens der Herausgeberschaft sicher gestellt wird.
Sie gründeten kulturkritik.ch 2009 als Kulturblog, der das lokale Zürcher Kulturgeschehen kritisch kommentiert. Wer sind die Autoren?
– Die Redaktion von kulturkritik.ch besteht aus freien Mitarbeitenden, die aufgrund ihrer Ausbildung, beruflichen Tätigkeit oder ihrer Freizeit ein profundes Interesse an journalistischer Tätigkeit in der Zürcher Kulturberichterstattung besitzen. Ein beträchtlicher Teil davon sind Studierende in Kommunikation, Sprachen, literarischem Schreiben oder Art Education. Aber auch ein Drehbuchautor, eine Theaterassistentin oder ein Sozialpädagoge schreiben für kulturkritik.ch.
Wie ist die Redaktion organisiert?
– Die Mitglieder treffen sich in unregelmässigen Abständen, meistens findet der Kontakt jedoch über das gegenseitige Lektorieren der Texte statt. Da sämtliche Prozesse über ein Webinterface abgewickelt werden, entsteht kaum administrativer Aufwand. Der Veranstalter schreibt selbständig eine Veranstaltung zur Kritik aus und initiiert damit einen IT-gestützten Workflow, der schliesslich mit der Publikation der Kritik abgeschlossen wird.
Das gegenseitige Lektorieren ist eine Qualitätsmassnahme. Gibt es weitere?
– Genau. Auf Kulturkritik wird kein Text ohne vorangehendes Lektorat publiziert. Damit unterscheidet sich die Plattform von vielen anderen Online-Medien und sogar von einzelnen Online-Portalen grosser Tageszeitungen. Innerhalb der Redaktion regelt ein Stufenmodell den Zugang. Neue Redaktionsmitglieder werden von den erfahrenen begleitet und erst nach ein bis drei Testkritiken in die Redaktion aufgenommen. In Zukunft werden wir das journalistische Handwerk ausserdem durch ein Workshop-Angebot zu verbessern suchen.
Welche Veranstalter interessieren sich?
– Kulturveranstalter sind auf Kulturberichterstattung angewiesen; wo sie diese nicht von alleine in genügendem Masse erhalten, werden aktive Bemühungen ergriffen, die «Coverage» zu verbessern. Ein akutes Interesse besteht beispielsweise auf Seiten von Theaterhäusern mit regem Gastspielbetrieb, wie etwa dem Theaterhaus Gessnerallee. Ohne regelmässige Berichterstattung würden gewisse Truppen dort nicht mehr gastieren, da eine Tournee von der lokalen Kritik zehrt, die ihr auf den Weg mitgegeben wird. Daneben gehören auch kleinere Off-Veranstaltungsorte, welche von den Tageszeitungen ohnehin wenig berücksichtigt werden, zu unseren Kunden.
100 Franken bezahlen Veranstalter für eine Vorschau und eine Rezension. Sind die Veranstalter tatsächlich bereit für Berichterstattung zu bezahlen?
– Verglichen mit den Kosten für andere Kommunikationsmassnahmen, welche einem Kulturbetrieb heute zur Verfügung stehen, stellt dieser Betrag eine kleine Investition dar. Allerdings sehen dies nicht alle Veranstalter so. Wir sind auch auf Veranstalter gestossen, die lieber weiterhin in grossem Stil Programmhefte und Flyer drucken, statt ein neues Instrument auszuprobieren.
Die Kunden zahlen auch bei negativer Kritik.
– Ja. Bisher haben wir damit ausschliesslich gute Erfahrungen gemacht. Mehrere Veranstalter haben uns sogar gebeten, härter mit ihnen ins Gericht zu gehen. In einem Fall veranlasste eine unserer Kritiken einen Veranstalter dazu, ein Format zu überdenken; es wurde schliesslich erfolgreich neu positioniert. Solche Erfahrungen bestärken uns in der Überzeugung, dass die Nachfrage nach echter Kritik vorhanden ist.
Wer sind die Leser?
– Wir haben leider noch kein präzises Bild eines Lesers von kulturkritik.ch. Unsere Webstatistik sagt uns, dass wir durchschnittlich etwa 500 Unique Visitors pro Kritik haben, mit einer Verweildauer, welche auf eine aufmerksame Lektüre hindeutet. Derzeit erarbeiten Studierende der Masterstudienrichtung publizieren & vermitteln der ZHdK Massnahmen, mit denen sich das Bild dieser Leserschaft schärfen liesse. Allgemein gilt aber: Die Rolle der Leser von Kulturberichterstattung muss noch geklärt werden.
Man kann Kulturkritik abonnieren. Nutzen Sie auch Twitter und Facebook?
– Vor kurzem haben wir Möglichkeiten zur Verbreitung unserer Texte über die Social Media geschaffen. Sie sind Teil unserer Bemühungen, die persönliche Empfehlung als Lektüremotiv von Kulturberichterstattung ernst zu nehmen. Es wird sich zeigen, inwiefern dieser Ansatz erfolgversprechend ist.
Mit welchem Budget arbeiten Sie?
– Der Kritikbetrieb ist dank dem Businessmodell selbsttragend; derzeit werden jährlich knapp 5’000 Franken an Autorenhonoraren umgesetzt. Da kulturkritik.ch keinen redaktionellen Overhead betreibt, entstehen keine weiteren Betriebskosten. Der Ertrag kommt also vollumfänglich den Journalisten zugute. Das Projekt ist innerhalb der Zürcher Hochschule der Künste im Master Art Education angesiedelt. Die ZHdK stellt die Programmierung der Seite und den technischen Betrieb sicher. Daneben schätzen wir uns glücklich, dass von allen Seiten auch unentschädigte Freiwilligenarbeit für das Projekt geleistet wurde.
Könnte Ihr Finanzierungsmodell auch auf andere journalistische Online-Plattformen übertragen werden?
– Als Kultur-Blog untersucht kulturkritik.ch seit Februar 2010 die Funktionsweise und die Rahmenbedingungen des heutigen Kulturjournalismus unter Life-Bedingungen. Das Geschäftsmodell von kulturkritik.ch funktioniert, wenn die Plattform eine kritische Zahl von Leserinnen und Lesern erreicht. Das Modell ist grundsätzlich übertragbar: auf andere kulturelle Einzugsgebiete, auf andere Plattformen oder auf andere Branchen. Im Moment bereiten wir deshalb Pilotversuche in Textsharing mit je einem Online- und einem Print-Kulturmagazin vor.
Wie geht es nun weiter?
– Kulturkritik ist ein Experiment. Als solches ist es in der Plattform Kulturpublizistik der Zürcher Hochschule der Künste beheimatet, welche Projekte und Akteure im Schnittfeld Kultur und Medien vernetzt. Am 1. und 2. September wird der Kulturmedienwandel im Rahmen einer Tagung reflektiert. Durch das Dach der Plattform Kulturpublizistik ist gewährleistet, dass die Erkenntnisse aus dem Experiment kulturkritik.ch in den Fachdiskurs zurückfliessen und auch anderen Akteuren zur Verfügung stehen. Wir arbeiten nach dem Motto, dass uns auch das Scheitern weiterbringen kann, wenn wir Neues konsequent genug ausprobieren.
Warum Kultur Kritik braucht: der Spot
Interview: Edith Hollenstein




