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Was hat Paul Klee mit dem Terror in London zu tun?

Von Klaus Bonanomi - Am 7. Juli 2005 vor­mit­tags, als die Bomben in der Londoner Metro und im roten Doppeldeckerbus hoch­gin­gen, war ich im neu­en Zentrum Paul Klee ver­sun­ken in die Betrachtung der Sammlung, der Sonderausstellung «Nulle dies sine linea» über das Schaffen Paul Klees in sei­nem letz­ten Lebensjahr, ver­sun­ken in die Betrachtung der wun­der­bar leich­ten, trans­pa­ren­ten Architektur Renzo Pianos… Ich war für eini­ge Stunden weit, weit weg, in einer ande­ren Welt. Und dann gegen Abend eine hef­ti­ge Rückkehr ins Hier und Jetzt: Am Bahnhof ver­teil­ten Kolporteure eine Blick-Sondernummer zu den Terror-Anschlägen von London. Keine acht Stunden nach den Attentaten hat­te es der Blick fer­tig gebracht, mit einer Extra-Ausgabe in den Bahnhöfen von Zürich, Basel und Bern prä­sent zu sein; die Blätter gin­gen weg wie war­me Weggli.

Neben vie­len Fotos, einem Korrespondentenbericht und Agenturtexten ent­hielt das acht­sei­ti­ge Extrablatt auch eine Kopie des (angeb­li­chen?) Al-Kaida-Bekennerschreibens in ara­bi­scher Schrift. Eine jour­na­li­sti­sche und logi­sti­sche Extraleistung: Damit das Extrablatt ab 17 Uhr den Pendlern in den gros­sen Bahnhöfen abge­ge­ben wer­den konn­te, muss­te unter gros­sem Zeitdruck gear­bei­tet wer­den. «Gegen Mittag ver­dich­te­ten sich die Meldungen aus London zu einem immer schlim­me­ren Bild. Wir merk­ten, dass dies wirk­lich ein gros­ses Ereignis war, und ent­schie­den uns des­halb gegen 13 Uhr, ein Extra-Blatt her­aus­zu­ge­ben», erklär­te mir Rolf Cavalli, der für das Extrablatt ver­ant­wort­li­che Blick-Redaktor. «Vor 15 Uhr war bereits Redaktionsschluss. Dann leg­te die Druckerei in Adligenswil eine Sonderschicht ein, und die druck­fri­schen Zeitungen wur­den an die Verteilzentren gefah­ren und von eigens auf­ge­bo­te­nen Verträgern unter die Leute gebracht. Das alles funk­tio­nier­te nur dank gutem Teamwork!»

Und dann muss­te die Redaktion die «nor­ma­le» Blick-Ausgabe des näch­sten Tages pro­du­zie­ren – noch­mals zehn Seiten, dies­mal mit mehr Hintergrund, Interviews und Einschätzungen. – Viel Aufmerksamkeit also für die Bombenleger! Betreiben der Blick und die ande­ren Medien damit nicht letzt­lich das Geschäft der Terroristen, die ja buch­stäb­lich um jeden Preis die öffent­li­che Wirkung suchen? Blick-Mann Cavalli ant­wor­tet auf mei­ne Frage klar: «Nein! Die weit­aus gröss­te Wirkung haben die TV-Bilder von CNN und BBC. Den Terroristen ist es doch egal, ob in einem klei­nen Land wie der Schweiz noch eini­ge zehn­tau­send Extrablätter gedruckt wer­den!»

Dennoch: Ohne die Massenmedien rund um den Globus könn­te der Terror sei­ne ver­hee­ren­de Wirkung nicht ent­fal­ten. Und da kommt ihnen noch eine wei­te­re Entwicklung zugu­te: Schnell wie nie zuvor waren dies­mal am Fernsehen und tags dar­auf auch in den Zeitungen Handy-Bilder von Augenzeugen der Attentate zu sehen. Zwar oft­mals ver­wackelt, unscharf und düster, brach­ten sie doch einen ersten Eindruck von Authentizität in die Berichterstattung der Zeitungen. Bereits weni­ge Minuten nach den Attentaten tra­fen bei der BBC erste Bilder ein; nach einer Stunde habe man bereits über 50 Bilder ver­fügt, spä­ter gar über Tausende von Bildern und auch Videoclips, sag­te eine BBC-Sprecherin. Auch an die Nachrichtenagenturen und Zeitungen wur­den Bilder geschickt; und auch via Internet wur­den Bilder ver­brei­tet. Offenbar hat mitt­ler­wei­le fast jeder­mann ein Handy mit ein­ge­bau­ter Kamera; und es scheint so etwas wie einen Reflex zu geben: Wenn etwas geschieht, wird das Handy gezückt und das Bild wei­ter­ge­schickt; und via Webblog und Internet-Foren tau­schen die Menschen gegen­sei­tig ihre Erlebnisse und ihre Einschätzungen aus.

«Die Technik ver­flacht die media­le Hierarchie zwi­schen Laien und Professionellen», schrieb dazu die NZZ auf ihrer Medienseite tref­fend. «Das tra­gi­sche Ereignis von London doku­men­tier­te erneut, wie die Interaktionen zwi­schen den eta­blier­ten Medienbetrieben und dem Publikum zuneh­men.» Eine Demokratisierung des Mediengeschäfts also, weg von der Einweg-Kommunikation, hin zur Interaktivität also…? Das Publikum, so scheint es, eman­zi­piert sich mehr und mehr von der allei­ni­gen Deutungsmacht der her­kömm­li­chen Medien und bil­det sich sei­ne eige­ne Meinung in der direk­ten Kommunikation mit sei­nes­glei­chen. «We are not afraid» – die­ses Motto mach­te im Internet zehn­tau­send­fach die Runde; ein klei­nes Zeichen gegen die mäch­ti­ge Wirkung des dro­hen­den Terrors.

Doch was sich auf die­se Art ver­brei­tet, ist oft­mals ein wil­der Mix aus Wahrheit und Lüge, Gerüchten und Widersprüchen; üble Scherze ste­hen neben seriö­sen Blog-Notizen… Hier liegt denn auch wei­ter­hin die Aufgabe der «her­kömm­li­chen» Medien: in der zuver­läs­si­gen Information und der kri­ti­schen Reflexion. Und dafür braucht es nicht nur das schnel­le Blick-Extrablatt, son­dern auch die fun­dier­te­re Ausgabe vom näch­sten Tag; es braucht eben­so die Hintergrundsendungen von Radio und TV, und es braucht auch wei­ter­hin gute Tagesund Wochenzeitungen.

Aus der Serie Von Menschen und Medien
Cartoon: www.fauser.ch

ensuite, August 2005