(Constantin Seibt) –

Erst waren es Gerüchte, dann ein Communiqué: Ralph Grosse-Bley ist als Chef des «Blicks» Vergangenheit.
Er war sicher einer der eisernsten Bosse, die dieses Land je gesehen hat. So eisern, dass man nicht einmal wusste, ob er es genoss. Ein Chefredaktor, so hart wie bei seinen Redaktoren höchstens die Zähne. (Hier ein gelungenes Portrait.)
Und trotzdem ist Grosse-Bley in Zürich gescheitert. Gleich zwei Mal. Und mit ihm alle deutschen Chefredaktoren in der Schweiz.
Das Chefredaktoren-Bordell
Dabei war ihr Auftauchen eine Erfrischung. In der Schweiz ist die Auswahl an Chefredaktoren klein. Denn die Hauptqualifikation für einen Chefredaktor ist, dass er bereits Chefredaktor war. Das führt dazu, dass Chefs eine Ewigkeit von Blatt zu Blatt wechseln. Die Innovation der Schweizer Presse funktioniert nach dem Modell der Strip-Clubs in der Provinz. Dort steht im Aushang periodisch das Schild «Neue Tänzerinnen eingetroffen!», wenn diese aus dem Club des Nachbardorfes kommen. Mit derselbe Geste kündigen die Verleger jeweils an: «Neue Chefredaktoren eingetroffen!»
Die neuen Chefs ziehen dann meist ihre tüchtigsten Kader aus dem alten Blatt nach. Und machen es unter neuem Namen. Kein Wunder, dass nach ein paar Wechselrunden in allen Strips-Clubs ein ähnliches Programm läuft. Und in den Zeitungen auch.
Blut, Blech, Blässe, Botschafter
Kurz, es war ein Experiment wert, dass der Ringier-Konzern Bosse aus Deutschland importierte. Doch warum scheiterten sie? Letztlich an einem brutalen dramaturgischen Gesetz: Wirksamer Journalismus muss respektlos sein. Aber mit einem Maximum an Takt.
Hier zunächst die drei Fälle:
- Im Januar 2002 installierte Ringier eine komplette deutsche Führungscrew im «SonntagsBlick». Matthias Nolte als Boss, Grosse-Bley als Vize, dessen Frau als Chefreporterin. Diese schrieb schon Wochen später die aufsehenerregendste Story der jüngeren Schweizer Pressegeschichte: «Borer und die nackte Frau». Ihr Inhalt: Thomas Borer, Botschafter der Schweiz in Berlin, sei nachts mit einer Frau im Auto in die Tiefgarage gefahren. Die Folge war ein Krieg. Borer sprach von Schmutzpresse und beleidigte das Verlegerehepaar Ringier. Die Konzernpresse sprach von Lüge und beleidigte Borer. Der «Blick» druckte die eidesstattliche Aussage der Tiefgaragen-Frau, Borer lüge. Der Schweizer Aussenminister feuerte Borer. Dann kippten Glück, Fall und Frau. Sie bezeichnete nun den «Blick» als Lügner. Ringier zahlte Borer mehr als eine Million Franken. Alle Deutschen wurden gefeuert.
- Im August 2010 holte Ringier den «Bild»-Mitarbeiter Karsten Witzmann an die Spitze des «SonntagsBlick». Das Blatt blieb blass wie Geleepudding. Zwei Jahre später war Witzmann wieder weg.
- Ein Jahr zuvor, im Sommer 2009 verpflichte Ringier Grosse-Bley. Mit dem Auftrag, den «Blick» zum Kern der Marke zurückführen: Blut, Blech, Busen, Büsis. Er tat es und machte den «Blick» zu einem Fachblatt für einheimische Kriminalität. Nur blieb die Werkschau von Mördern, Dieben, Kinderschändern verblüffend blutlos. Denn etwas fehlte: Politik. In den 80er-Jahren war der «Blick» scharf rechts gewesen. Später, Anfang des Jahrtausends, hellwach und links. Aber immer hatte der «Blick» in der Politik Schrecken verbreitet. Man konnte ihn hassen, aber nie ignorieren. Doch unter Grosse-Bley war das anders. Er war politisch völlig irrelevant.
Der rote und der grüne Bereich
Eine der Schwierigkeiten im Journalismus ist, dass die Leser lügen – egal ob im Boulevard oder nicht. Fast alle behaupten, sie würden sie seriöse Information über alles schätzen. Das tun sie zwar, aber moderat. Was sie in Wahrheit hinreisst, ist nicht Seriosität. Sondern der Stunt. Also der Nervenkitzel. Und dieser stellt sich beim Lesen wie beim Schreiben dann ein, wenn irgendwo eine Norm verletzt wird.
Bei den meisten Artikeln und Zeitungen gibt es eine breite, grüne Strasse, die man als Autor gefahrlos fahren kann. Doch wer sich stets in der Mitte hält, langweilt. Wirklich gute Artikel und Zeitungen kratzen fast alle die Linie zum roten Bereich, so dass die Leser atemlos denken: Darf der das?
Landet der Artikel dann knapp wieder im grünen Bereich, gibt es Applaus. Landet er im roten Bereich, fällt das Publikum über alle Verantwortlichen her.
Die Normverletzung kann verschiedener Art sein. Eine gefährliche Recherche. Freche Adjektive. Eine Meinung frontal gegen die Mehrheit des Publikums. Frivolität im Ernsten und umgekehrt. Gefühle auf Zeitungspapier. Tabus wie Lobbyismus, Scheitern, Sex, die eigene Zeitung. Extreme Kürze. Epische Breite. Selbstreferenzialität. Die Wörter «ich», «ihr» oder «wir». Anklagen. Prophezeiungen. Das Geständnis, keine Ahnung zu haben. Etcetera.
Die Schwierigkeit bei wirklich wirksamen Journalismus ist, dass er zwei Dinge gleichzeitig benötigt: eine solide Portion Unverschämtheit und ein vollendetes Taktgefühl. Ohne ersteres langweilt man. Ohne zweiteres wird man geschlachtet.
Die verdammte Schweiz
Genau hier lag das Problem der drei deutschen Chefredaktoren. Sie waren erfahrene Profis, aber sie hatten nicht über Jahre in der Schweiz gelebt. So konnten sie die feinen Grenzen des lokalen Geschmacks nicht kennen, um sie zu verletzen und nicht zu verletzen. Sie spürten nicht: Was ist eine offene Tür, was nur eine Absurdität, was eine Kühnheit, was eine wirkliche Kühnheit, was eine Tollkühnheit, was eine tödliche Beleidigung jeden zivilisierten Geschmacks?
Typisch war das Argument des Chefredaktors Nolte, warum er die Geschichte mit Borer und der Tiefgaragen-Frau gebracht hatte. Der Botschafter sei wegen seiner häufigen Anwesenheit auf Partys ja «Teil der Berliner Spassgesellschaft», sagte er. Also auf einer Stufe wie Models oder Schauspieler.
Doch in der Schweiz war Borer nicht Teil der «Spassgesellschaft». In der Schweiz kannte man nicht einmal den Begriff. Borer war hier der Botschafter. Also eine politische Figur. Und über deren Privatleben schrieb man nicht.
So rasselte Nolte in die Falle. Eine Falle, die Witzmann nur vermied, indem er keine Entscheidungen traf. Und Grosse-Bley dadurch, dass seine sonst so knallharte Zeitung politisch ein Eunuch blieb. Nur fehlte ihm so der Thrill im Blatt, trotz Litern von Blut.
Aus diesem Grund hatten die Deutschen Chefs keine Chance. Und deshalb werden Journalisten, auch wenn sie noch so gut arbeiten, immer anrüchig bleiben. Und das zu Recht. Denn ihr Job ist, gesichert nur durch ein hauchdünnes Seil an Takt, inhaltlich das Neue, die Frechheit und die Kritik. Und ästhetisch der Schock.
Solchen Leuten wird man nie trauen. Aber man wird sie lesen.
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