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Vorstadtmief an der Sihl

Das Stück beginnt eigent­lich schon vor der Premiere. Ein Duft zwi­schen Holz und Plastik liegt im Zuschauerraum in der Luft, ganz fein nur, aber ein­deu­tig: es riecht nach Industrie, nach grau­er Vorstadt. In die­se Geruchskulisse hin­ein bricht nun der Lärm eines Akkuschraubers – und mit ihm die gan­ze Trostlosigkeit von Rainer Werner Fassbinders Katzelmacher.

Auf der Bühne steht ein bis zur Decke ragen­des Baugerüst, unter dem ein Arbeiter Hocker zusam­men schraubt, wäh­rend sich über ihm Stücke abge­säg­ter Baumstämme tür­men und eine jun­ge, aber gleich­zei­tig alt­mo­disch ver­staub­te Frauengestalt ihre Hüften krei­sen lässt. Es ist die Fabrik der Elisabeth (Laura Kolbe), die kei­ne Arbeitskräfte vom Ort will, son­dern Gastarbeiter oder eben «Fremdarbeiter», weil die­se gün­sti­ger sind. Das Gerüst neben­an wird bald von die­sen «Arbeitskräften vom Ort» bevöl­kert, von jun­gen Männern, die Bier ver­lan­gen und pri­mi­ti­ve Sprüche reis­sen, von Mädchen, die las­ziv her­um­tur­nen und sich das Gegrabsche der Männer gefal­len las­sen. Junge Menschen, die in der Enge einer Vorstadt gefan­gen sind, in der Wörter wie «Abenteuer», «Liebe» oder «Anerkennung» kei­nen Platz haben. Und so stel­len sie dem Erfolg der ran­zi­gen Fabrikbesitzerin ihre gie­ri­gen Körper gegen­über, trei­ben es kreuz und quer mit­ein­an­der, die einen für Geld, die andern umsonst, doch die Lust sackt Mal für Mal in stump­fe, vul­gä­re Leere zusam­men. Der grie­chi­sche Gastarbeiter Jorgos (Roger Bonjour) bie­tet der star­ren Gruppe, die kei­ne eige­ne Geschichte zu erzäh­len hat, schliess­lich ein ech­tes Feindbild. «Ein Ausländer ist das», schrei­en sie dem Typ im Anzug ent­ge­gen. Obwohl er mit dem Zitrusbäumchen und dem gros­sen Koffer doch ein Stück Welt in ihre öde Vorstadt bringt, aus der sie so ger­ne ent­flie­hen möch­ten. Die bestehen­de Ordnung, und sei sie noch so ver­hasst, muss nun vor dem Eindringling beschützt wer­den. So fin­den der ange­stau­te Frust und die Enttäuschung end­lich ein Ventil und es beginnt eine irra­tio­na­le Hetzjagd gegen den Fremden.

Hassen gelingt nicht

Fassbinders Katzelmacher kann schnell zum Bild wer­den, das der Zuschauer von weit her betrach­tet, zur Gesellschaftsstudie, die schein­bar nichts mit dem gebil­de­ten Theaterbesucher zu tun hat. Zu Beginn des Stücks gibt es sol­che Momente. Doch was zu dick auf­ge­tra­gen scheint, wird mit der Zeit immer greif­ba­rer. Hinter der Laszivität der Mädchen, dem Machogehabe der Jungen und der Biederkeit der Fabrikbesitzerin zei­gen sich Figuren, die einem merk­wür­dig bekannt vor­kom­men. Dass für die anfäng­li­che Distanz bald kein Platz mehr ist, ist auch der beein­drucken­den Wucht zu ver­dan­ken, mit der eini­ge der jun­gen Schauspieler der Zürcher Hochschule der Künste auf­tre­ten. Ja, es wird gespuckt und geprü­gelt, gegrabscht, gefickt und ver­ge­wal­tigt, anders kann man es nicht sagen. So rei­tet ein split­ter­nack­ter Franz (Felician Hohnloser) auf dem Buckel der Ingrid (Linda Lienhard), wäh­rend die­se in ein offen­sicht­lich phal­li­sches Mikrofon singt. Doch das Derbe, die nack­te Haut ist für ein­mal nicht unnö­ti­ge Provokation, kei­ne Nacktheit um der Nacktheit wil­len, son­dern die Verzweiflung eines jun­gen Mannes, der sich für einen kur­zen Moment auf der Bühne der gros­sen Welt wähnt und ob sich selbst erschrickt, bevor er wie­der in die Stumpfheit sei­ner Vorstadtrealität zurück fällt.

Man möch­te die Figuren has­sen, die da Beine sprei­zen und sprei­zen machen, Lügen ver­brei­ten und Unschuldige ver­prü­geln, um ihrer Unbedeutsamkeit zu ent­flie­hen. Doch es gelingt nicht. Man kann den ver­ach­tens­wer­ten, macho­haf­ten Anführer Erich (Dimitri Stapfer) nicht has­sen, wenn er sich mit Dosenbier über­leert, um sei­ne Schuld und Scham abzu­wa­schen (eine Schuld, die er, sich selbst gegen­über und eben­so­we­nig allen andern, nicht ein­ge­ste­hen kann). Man kann den Kraftprotz nicht has­sen, wie er zit­ternd zur Ruhe kommt, wäh­rend ihm das Bier noch aus dem Mund schäumt. Man kann auch Ingrid mit ihrem blau­en Lidschatten und dem zu kur­zen, gol­di­gen Rock nicht ver­ach­ten, die «weil ich bin anders als die andern», sagt – und sich dabei ihre behaup­te­te Individualität nicht ein­mal selbst abnimmt. Durch Stapfers und Lienhards bril­lan­te schau­spie­le­ri­sche Leistung tritt anstel­le von Hass und Verachtung ein unan­ge­neh­mes Mitgefühl.

Merkwürdige Aktualität

Fassbinders 1968 ent­stan­de­nes Stück, das Marieluise Fleisser gewid­met ist und deren Fegefeuer in Ingolstadt von 1924 zum Vorbild hat, behält bei der Premiere an der Sihl eine merk­wür­di­ge Aktualität. Nicht weil der Gastarbeiter Katzelmacher aus Griechenland kommt und Ausländer und Reiche als Feindbilder benutzt wer­den. Sondern weil das YOLO (You only live once) der Jugendlichen am nahen Treffpunkt des Hauptbahnhofs nicht weni­ger ver­zwei­felt klingt, als Ingrids «Man ist nur ein­mal jung».

Die irra­tio­na­len Abgründe die­ser ver­lo­re­nen Jugend, die sich auf der Bühne B des Theater der Künste zei­gen, sind kei­ne aus der Vergangenheit der Provinz aus­ge­gra­be­nen – zu bekannt sind sie einem. Dass es ein zeit­lo­ses und damit ein dop­pelt hoff­nungs­lo­ses Bild ist, das hier gezeich­net wird, macht auch der ewig dre­hen­de Akkuschrauber deut­lich, der am Ende des Stücks gna­den­los wei­ter­summt und den Faden der Fleisser so wei­ter in die Zukunft spinnt. Vielleicht hat der erbärm­li­che Franz ja recht: «Die Sachen sind so, wie sie sind, da kannst nichts ändern.»

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