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Versuch über die wah­re Art zu kri­ti­sie­ren

Ein Zitat des Literaturnobelpreisträgers G.B. Shaw, dem­zu­fol­ge Kritiker blut­rün­sti­ge Leute sei­en, deu­te­te bereits in der Vorankündigung auf den Grundton der Veranstaltung hin. Quasi als Gesprächsleitlinie lie­fer­te Norbert Miller dann gleich zu Beginn sei­ne Definition von Kritik: «Kritik ent­steht, wenn die Avantgarde gegen die all­ge­mei­ne Meinung ver­stösst.» Auch Peter Hagmann stimm­te in die­sen Kanon ein, er äus­ser­te sich bewun­dernd über den Mut der Kritiker im spä­ten 19. Jahrhundert. Dieser Mut ent­pupp­te sich in den nach­fol­gen­den Beispielen aus Hugo Wolfs Feder jedoch weit­ge­hend als gna­den­los ver­nich­ten­de, pole­mi­sche Aggression.

Harte Worte

Jeder Grundlage ent­beh­rend beschimpf­te Wolf in sei­nen Kritiken Brahms, Schubert, Schumann oder Mendelssohn in bis­si­ger und manch­mal sogar vul­gä­rer Art und Weise. «Hohlheit», «Duckmäuserei» und «Impotenz» waren die Schlagworte sei­nes Vokabulars. Das Publikum im Saal amü­sier­te sich köst­lich ob die­ser lei­den­schaft­li­chen Zerfleischungen, wel­che von Helmut Vogel äus­serst pla­stisch rezi­tiert wur­den. Derweil deck­ten Hagmann und Miller sach­lich und mit Schalk die Intention des rohen Machtmissbrauchs auf, indem sie die geschicht­li­chen Hintergründe der Konkurrenz Brahms’ und Wolfs beleuch­te­ten.

Auch spra­chen sie im wei­te­ren Verlauf wich­ti­ge Fragen aus, wel­che sich für einen Kritiker immer stel­len müs­sen: Die Frage nach der Kompetenz des Kritisierenden, nach sei­nen Kriterien und sei­ner Subjektivität, die Frage nach der Verzerrung von Kritik durch sei­nen eige­nen Narzissmus oder durch bestehen­de Vorurteile. Kurz: Die Eckpunkte des für alle Journalisten ver­bind­li­chen Pressekodexes.

κρίνειν

Auch im wei­te­ren Verlauf wur­de der durch den Programmablauf insze­nier­te, publi­kums­wirk­sa­me Schlagabtausch bei­be­hal­ten. Oberflächlich betrach­tet hät­te sich so der land­läu­fi­ge Eindruck erhär­ten kön­nen, dass Kritiker wirk­lich eine kin­di­sche, bru­ta­le und kläf­fen­de Spezies sind. Wer ganz genau hin­hör­te wur­de jedoch enig­ma­tisch auf die Etymologie des Wortes «Kritik» hin­ge­wie­sen, wel­che sich auf das grie­chi­sche Verb «kri­ne­in» für schei­den, sich­ten oder tren­nen bezieht. Hagmann erwähn­te zag­haft die Rolle des Kritikers als «Lichtbringer» und frag­te, von wel­cher Art von Kritik ein Leser pro­fi­tie­ren könn­te. Diese zen­tra­le Aufgabe der Kritik – als Stimulans eines erwach­se­nen Diskurses und Rezeptionsbeistand – hät­te deut­li­cher und selbst­be­wuss­ter gewich­tet wer­den kön­nen.

Arrièregarde

Leider prä­sen­tier­ten sich Miller und Hagmann statt als Avantgardisten nur zurück­blickend (das aktu­ell­ste Kritik-Beispiel war von 1886) und setz­ten die gewon­ne­nen Erkenntnisse kaum in Beziehung zur heu­ti­gen Situation der Kulturkritik. Gerade im Zuge der aktu­el­len Kulturinfarkt-Debatte und der Feuilletonkrise wäre dies sicher frucht­bar gewe­sen. Hagmann kon­sta­tier­te zwar eine Verflachung der heu­ti­gen Kulturkritik, brach­te aber kei­ne tref­fen­den Beispiele, Analysen oder Lösungsvorschläge.

An die Musik

Sechs Musiker brach­ten die Zankäpfel der vor­ge­stell­ten Kritiken zum Klingen. Zuerst zwei Sätze der F‑Dur Cellosonate von Brahms, in wel­chen es dem Cellisten Mattia Zappa nach einem etwas unko­or­di­nier­ten und klang­lich oft unaus­ba­lan­cier­ten ersten Satz gelang, sich im Adagio affet­tuo­so frei zu spie­len und die inni­gen Kantilenen aus­zu­ko­sten.

Der musi­ka­li­sche Höhepunkt der Matinée war spä­ter die Wiedergabe des ersten und drit­ten Satzes von Bruckners Streichquintett. Die fünf Mitglieder des Tonhalle-Orchesters über­tru­gen mit Herzblut die Sinnlichkeit des Stücks aufs Publikum und mach­ten mit Intelligenz die kom­ple­xe Motivarbeit des Stücks hör­bar. Sie über­zeug­ten mit einem sowohl durch­sich­ti­gen als auch sat­ten und kom­pak­ten Gesamtklang. Mit ihrer anrüh­ren­den Interpretation des aus­ge­dehn­ten Adagios zele­brier­ten sie die Musik als ent­waff­nen­de Protagonistin des Diskurses.

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