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Let the­re be rock!

Tocotronic in der Roten Fabrik. Verwendet man Sportvokabular, kommt das einem Heimspiel gleich: Wenn die Band Zürich besucht, spielt sie in der Aktionshalle. Die Polyester-Trainingsjacken sind längst weg, der Seitenscheitel ist geblie­ben, die Klischees der Popmusik bedie­nen Tocotronic auch nach zwan­zig Jahren Bandgeschichte noch immer. So auch das Klischee der in die Jahre gekom­me­nen Künstler: Die Wut ist dem Bauchansatz gewi­chen, der Einzelkämpfer Rebellion bückt sich schwei­gend  dem poten­te­ren, erwach­se­nen Pluralismus.

In höch­sten Höhen

Tocotronic sind seit Beginn der 90er-Jahre Könige des Anprangerns, der schar­fen Zunge und Beobachtungsgabe. Mit den Texten aus den zehn Tocotronic-Studioalben könn­te man sämt­li­che Toilettenwände deut­scher Hochschulen tape­zie­ren. Tocotronic sind nicht die Stimme einer Generation, sie sind die Stimme meh­re­rer Generationen. Diese Band hat immer gesagt, was sie nicht will und woge­gen sie kämpft.

Und nun steht in roten Lettern auf dem Albumcover: «Wie wir leben wol­len». Tocotronic haben vie­le Versionen dafür, wie wir leben wol­len. Es ist wie­der­um eine poe­ti­sche Platte, aber dies­mal von Musikern, die 40 sind und dies auch the­ma­ti­sie­ren. Sie las­sen ihre Fans wis­sen, wofür sie denn eigent­lich sind. Die lieb­li­che Ausdrucksform sei eine Form von Rebellion, erläu­ter­te Sänger Dirk von Lowtzow in einem Interview, denn ein weis­ser hete­ro­se­xu­el­ler Rocksänger habe so nicht zu sin­gen. Natürlich und zum Glück ist der kri­ti­sche Unterton geblie­ben und auch zum Glück geschieht dies alles noch immer ohne erho­be­nen Zeigefinger.

Keine Meisterwerke mehr

Ein Konzert von Tocotronic ist ein siche­rer Wert. Stets gesell­schafts­kri­tisch, impli­zit poli­tisch, wütend und laut, zart und nar­ko­tisch; ob «Diskursrocker» oder «Poetenpop» – die Texte von Dirk von Lowtzow sind kom­plex, gespickt mit Fremdwörtern, ange­rei­chert mit eige­nen Wortkreationen und sau­er und gif­tig.

Ausgerechnet die­se Vehemenz, die­se «alles oder nichts»-Haltung, lässt die Band am Samstagabend in der Aktionshalle ver­mis­sen. Ältere Songs wie «Aber hier leben, nein dan­ke»,  «Sag alles ab» und «Freiburg» schmet­tern Tocotronic ihrem Publikum noch immer scho­nungs­los ent­ge­gen. Doch das passt schlecht mit den lieb­li­chen Songs aus «Wie wir leben wol­len» zusam­men. Davon spie­len Tocotronic in der Roten Fabrik zahl­rei­che, doch sie ent­pup­pen sich als Bremsklötze statt Beschleuniger, Beruhigungsmittel statt Verstärker. Sie ersticken jede sich ankün­di­gen­de eupho­ri­sche Stimmung des Publikums im Keim und alles bleibt, genau wie im Song, «warm und grau».

Im Keller

«Alles wird in Flammen ste­hen», singt die Band aus Hamburg und Berlin in der Mitte des Sets und auf der Leinwand steigt der Schriftzug «Lucifer Rising» empor. In der aus­ver­kauf­ten Aktionshalle aber bleibt es lau­warm, von Hitze kann nicht die Rede sein, der Funken ist nicht gesprun­gen.

Das Publikum lang­weilt sich mehr über sich selbst als über die Band. Doch die Vorschuss-Lorbeeren haben sie bereits nach dem ersten Song zu hören gekriegt: «Ihr seid jetzt schon das beste Publikum», sagt von Lowtzow gewohnt non­cha­lant. Wenn es nach der Band geht, war dies der Höhepunkt: «Im Keller», hiess der aller­er­ste Song, und genau dort ist auch die Stimmung immer wie­der im Laufe des Konzertes.

Tocotronic machen sich für die Asylpolitik stark und zei­gen vor Betreten der Bühne einen Clip von Pro Asyl. Nicht nur das expli­zi­te Politisieren ist neu, son­dern auch, dass Tocotronic sich fürs Energiesparen ein­setzt: Die Energie der Band hat an die­sem Abend die Intensität eines Solar-Rucksacks. Vielleicht haben Tocotronic mit ihrem neu­en Album und den Ideen, die sich dar­auf fin­den las­sen, recht: Vielleicht wol­len wir so leben. Aber Konzerte erle­ben, wol­len wir künf­tig bit­te wie­der anders.

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