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Ideen für kran­ken­de Städte

Eiseskälte schnürt das Herz zusam­men, die Schritte ver­hal­len unge­hört in Strassenschluchten aus Beton, Glas und Stahl. Nur ab und zu rauscht ein Auto vor­bei und schnei­det einen ver­zerr­ten Schatten in die Strassenbeleuchtung. Was einem apo­ka­lyp­ti­schen Science-Fiction-Streifen entom­men sein könn­te, ist in Realität das «pul­sie­ren­de Trendquartier» Zürich-West in einer Freitagnacht. Wenn sich die Dunkelheit über das zu Tode neu­be­bau­te Stadtviertel legt, brei­tet sich dort eine Wüste aus –und das an einem Ort, wo einst so ver­heis­sungs­vol­le Konzepte wie «Puls 5» das ehe­ma­li­ge Industriequartier hät­ten bele­ben sol­len. Dies ist nur ein Beispiel für vie­le durch­ge­plan­te Stadtprojekte welt­weit, deren Urbanität nicht funk­tio­niert. Doch was ist da schief gelau­fen?

Denkt für Menschen, nicht für Autos

Seit dem Aufkommen der Massenmobilisierung hat man Städte so zu bau­en begon­nen, dass sie sich beson­ders gut für den Automobilverkehr eig­nen. Dieser ver­hiess schliess­lich Freiheit und Selbstbestimmung. Dass mit die­sen städ­te­bau­li­chen Entscheidungen hin­ge­gen been­gen­de und krank machen­de Städte ent­stan­den sind, möch­te der Dokumentarfilm «The Human Scale» zei­gen. Er stellt die jahr­zehn­te­lan­gen Stadtforschungen des däni­schen Architekten Jan Gehl vor. Dessen Lösungsansatz besagt, dass Städte ver­mehrt aus der Perspektive der Fussgänger statt der Autofahrer betrach­tet wer­den sol­len. Damit wür­den sich die Bewohner wie­der als Teil des öffent­li­chen Raumes wahr­neh­men, statt zurück­ge­drängt an Zivilisationskrankheiten zu ver­elen­den.
Als Beispiel für gelun­ge­ne Raumplanung wird Gehls Heimatstadt Kopenhagen por­trä­tiert, wo in den 1960er Jahren gros­se Teile dem moto­ri­sier­ten Verkehr ent­zo­gen und den Fussgängern zurück­ge­ge­ben wur­den. Ein Fahrradnetz von 350 Kilometern unter­stützt die Lebendigkeit die­ser Stadt und wer je durch Kopenhagen fla­niert ist, weiss, wie gut das funk­tio­niert. Andere Städte haben sich davon inspi­rie­ren las­sen – so ist seit 2009 der Times Square in New York für Autos gesperrt und erst jetzt wie­der zum blü­hen­den Platz im eigent­li­chen Sinn gewor­den. Der Film zeigt in ein­drück­li­chen Vorher-Nachher-Aufnahmen, wie die Fussgänger ihren Raum mit Cafés und ein biss­chen Lebensruhe wie­der zu nut­zen begin­nen. Auch Chongqing, die am schnell­sten wach­sen­de Stadt Chinas, hat sich an das Experiment Fussgängerwege gewagt – wenn auch mit deut­li­chen Startschwierigkeiten in einem Land, das so stolz auf sei­ne gera­de explo­die­ren­de Automobilisierung ist.

Konventionell gefilmt

Gehls Ideen wer­den in «The Human Scale» sehr ein­leuch­tend demon­striert, wenn auch die Machart des Films ein Wehmutstropfen dar­stellt. Ohne kri­ti­sche Gegenstimme ist der als doku­men­ta­risch ver­kauf­te Film eher ein Essay, Gehls Visionen gera­ten in die Gefahr der Glorifizierung. Zu häu­fig wird emo­tio­na­li­siert statt infor­miert: Wenn der Film zum Beispiel auf Dhaka fokus­siert und längst über­be­kann­te Bilder wie­der­holt (indi­sche Kinder, die am Eisenbahngleis sit­zen, wäh­rend ein Zug durchs Bild don­nert) oder wenn emo­tio­na­li­siert Zahlen prä­sen­tiert und hin­ter beein­drucken­den Bildern Pseudowissen ver­steckt wer­den – dann wünsch­te man sich etwas mehr Trockenheit.

Und doch ver­zeiht man dem Film sei­ne Flausen, denn er stimmt hoff­nungs­froh. Es bräuch­te nicht viel, um lebens­wer­te­re Städte zu bau­en. Es braucht vor allem Architekten und Institutionen, die den Mut haben, einen Teil der Urbanität der Bevölkerung zu über­las­sen. Denn erst wenn die Bewohner selbst in ihre Stadt ein­grei­fen kön­nen, ent­ste­hen die vie­len unplan­ba­ren Orte, die Kreativität ermög­li­chen und das Leben in der Stadt lebens­wert machen. Der Film zeigt nicht zuletzt, dass damit Projekte ent­ste­hen, die sogar viel wirt­schaft­li­cher sind als das, was sich Grossinvestoren in Masterplänen aus­den­ken kön­nen. Das macht Lust, den öffent­li­chen Raum vor der eige­nen Haustür wie­der stär­ker als Gestaltungsfläche wahr­zu­neh­men – und die Diskussion über unse­re Städte als eine Frage zu betrach­ten, die uns alle unmit­tel­bar etwas angeht.

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