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Blumen im Schnee

Laura Kaehr führt eine Oper auf. Allerdings ist nur ein Libretto aus dem Jahr 1926 erhal­ten geblie­ben. Wie soll das gehen? Neben der Regisseurin sind noch zwei Tänzerinnen auf der Bühne. Requisiten gibt es fast kei­ne. Die drei Frauen in ihren schwar­zen Spitzen- und Tüllkleidern wir­ken im küh­len Theatersaal etwas ver­lo­ren. Und jetzt eine Oper?

Bezaubernde Komposition

Laura Kaehr bil­det sich der­zeit in trans­dis­zi­pli­nä­rer Kunst aus. Ihr Stück «Thank You For the Lovely Flowers» ist Teil ihrer Masterarbeit. Also wen­det sie ihre neu erwor­be­nen Fähigkeiten an. Drei Filmleinwände begren­zen den Bühnenraum. Während beun­ru­hi­gen­de Klänge den Raum zum Zittern brin­gen, sehen wir Ascona und Locarno auf der Leinwand, tief ver­schneit. Ein schö­nes Bild einer Landschaft, die sonst mit Palmen und Pergolas wirbt.

Der klei­ne Film ist für sich eine Entdeckung, weist aber über sich hin­aus. Der Schnee steht hier für die Kälte – die Kälte des Kriegs, des Todes – und kon­tra­stiert mit Blumen. Denn bald wird’s Frühling auf der Leinwand, Blüten erge­hen sich in leicht ver­bli­che­ner Farbenpracht, wäh­rend auf den Bergspitzen noch der letz­te Schnee liegt. Auch im Libretto geht es um Blumen. Und Laura Kaehr erzählt von Blumen in einem Garten, schil­dert das rote Haus ihrer Vorfahren in Minusio. Das alles zeigt, wie die Regisseurin ihre Oper durch­kom­po­niert hat. Bilder, Leitmotive und eine unauf­dring­li­che Symbolik fügen die Versatzstücke aus Erzählung und Musik, Tanz und Gesang zu einem Ganzen.

Historischer Kontext

Laura Kaehr ver­or­tet ihre Aufführung poli­tisch und histo­risch ein­deu­tig. Dokumentarische Bilder aus dem Jahr 1925 zei­gen die dama­li­gen Staatschefs. Sie schlies­sen den Pakt von Locarno. Dieses Abkommen lässt die Hoffnung auf einen dau­er­haf­ten Frieden in Westeuropa auf­kom­men. In die­sem Umfeld wirkt Urgrossvater Kaehr als Pazifist und schreibt 1926 sei­ne Friedensoper. Er gehör­te zum Umfeld der welt­be­rühm­ten Künstlerkolonie auf dem Monte Veritá bei Ascona. Doch sowe­nig wie die Friedensoper je auf­ge­führt wur­de, sowe­nig war der Frieden von Dauer.

Heute ist alles ver­schwun­den. Am Langensee, auf dem Monte Verità – tote Hose. Das rote Haus mit dem Blumengarten – abge­ris­sen. Bücher und Bilder, die Erinnerungen bewahr­ten, – gestoh­len. Wir leben, sagt die Regisseurin, in einer selbst­be­ses­se­nen Gegenwart, die nichts mehr weiss und nichts wis­sen will von ihrer Geschichte – wäh­rend Laura Kaehr erschüt­tert wird von Erinnerungen an etwas, das sie nie erlebt hat. So tritt sie dem Verlust mit dem irr­wit­zi­gen Versuch ent­ge­gen, eine Oper auf­zu­füh­ren. Sie will mit der Kunst eine Brücke in die Vergangenheit bau­en. Das ist ein gewag­tes Experiment.

Das Experiment

Doch Laura Kaehr wickelt das Publikum mit ihrem Charme um den Finger. Sie koket­tiert mit ihren Schwächen. Ihr Englisch ist nicht büh­nen­taug­lich, von Deutsch gar nicht zu spre­chen. Schauspielerisch geschieht nicht viel, der Tanz könn­te zuwei­len prä­zi­ser sein. Der Regisseurin steht jeden­falls noch viel har­te Arbeit bevor. Anderes gelingt bes­ser – die Lieder zum Beispiel, oder das Video, das zeigt, wie sie Koryphäen des zeit­ge­nös­si­schen Theaters um Hilfe bit­tet. Die Herren wir­ken hilf­los. Dies alles indes tritt zurück hin­ter eine ent­schei­den­de Tatsache: Laura Kaehr schafft es, eine Geschichte mit Gehalt zu erzäh­len, eine Geschichte, die berührt. Als Ganzes ist ihr Experiment gelun­gen.

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