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Im Archiv der Ängste

Keiner wuss­te, was genau Stephen G. Rhodes dort eigent­lich inmit­ten sei­nes eige­nen Kunstwerks ver­an­stal­te­te. Mit einer Art Viehtreiberstock schal­tet er Glühbirnen und Ventilatoren ein und bringt Luftballons zum Platzen. Eine Armada von Gummischlangen über­zieht den Boden und die Bücherregale, die am Rand auf­ge­baut sind. Unter den Ventilatorflügeln sind Projektoren ange­bracht, die nun schnell wech­seln­de Loop-Filmsequenzen auf die Oberflächen der Umgebung wer­fen. Man sieht vie­le Schlangen und vie­le Blitze. Der Raum ist auf­ge­teilt in drei durch Spitalvorhänge abge­trenn­te Ellipsen; in zwei von ihnen bil­det eine Puppe das Zentrum, in der mitt­le­ren ein Stehpult. An die­sem Stehpult dekla­miert ein alter bär­ti­ger Mann in Patientenkleidung immer wie­der die glei­che Formel – in einer Sprache, die ver­mut­lich nicht exi­stiert.

Und mit­ten in die­ser durch­aus bedroh­li­chen Kulisse Stephen G. Rhodes immer noch mit dem Viehtreiberstock. Performance? Rituelle Weihung? Das Werk scheint jeden­falls in Betrieb genom­men. Schliesslich nimmt er den armen Alten am Arm, führt ihn behut­sam weg und über­lässt die Installation sich selbst. Die Stimme hallt wei­ter aus den Lautsprechern, die Bilder rotie­ren, aber sie tun das auch ohne das Subjekt, von dem sie aus­gin­gen. Der Alte ist weg. Er stand, das soll­te man viel­leicht wis­sen, für den Kunstforscher und Kulturwissenschaftler Aby Warburg.

Der Fall Warburg

Aby Warburg war ein umfas­send gebil­de­ter Kosmopolit und bril­lan­ter Wissenschaftler; er ent­wickel­te neue kunst­hi­sto­ri­sche Methoden, beschäf­tig­te sich mit der Geschichte der Astrologie, den Mythen frem­der Völker und der Kunst der Renaissance. Er sag­te von sich, er sei im Herzen Florentiner; vor allem aber war er nach dem Ersten Weltkrieg mit den Nerven am Ende. Er litt unter Phobien und Wahnvorstellungen. Die moder­ne Zivilisation im Allgemeinen und die poli­ti­schen Verhältnisse Europas im Besonderen fand er wider­lich und uner­träg­lich. 1921 wies man ihn ins Sanatorium Bellevue in der Schweiz ein, nach­dem er mit Selbstmord und Mord an sei­ner Familie gedroht hat­te. Gegenüber dem Pflegepersonal ver­hielt er sich teil­wei­se offen aggres­siv, teil­wei­se apa­thisch. Ausserdem ent­wickel­te er immer obsku­re­re Hygieneobsessionen. Er starr­te stun­den­lang auf krei­sen­de Ventilatoren und begann mit Schmetterlingen zu spre­chen. Seine Ärzte ver­ab­reich­ten ihm hohe Dosen Opium.

Was ging in ihm vor, wor­über dach­te der gelehr­te Mann nach? Wer weiss. Allem Anschein nach war er durch sei­ne frü­he­ren Feldstudien schwer trau­ma­ti­siert. Zumindest schie­nen ihn die Erinnerungen an Rituale der Hopi-Indianer nicht los­zu­las­sen, die er knapp 30 Jahre zuvor im Südwesten Amerikas beob­ach­tet hat­te. Eine gei­sti­ge Erkrankung kann sich auf ver­schie­de­nen Wegen schöp­fe­risch Bahn bre­chen; wir haben kein Problem damit, uns einen ver­rück­ten Musiker, Maler oder Diktator vor­zu­stel­len. Sehr sel­ten aller­dings fin­det sie ihr Ventil, wie im Falle Warburgs, in Form einer aus­ge­feil­ten kul­tur­anthro­po­lo­gi­schen Abhandlung. Seinen heu­te berühm­ten Vortrag «Das Schlangenritual. Ein Reisebericht» beka­men zunächst nur die Patienten und Ärzte des Sanatoriums zu hören. Doch sei­ne Analyse muss die Standards des dama­li­gen intel­lek­tu­el­len Diskurses mehr als nur erfüllt haben, denn sie zog schnell gros­ses Interesse auf sich, unter ande­rem das des Philosophen Ernst Cassirer (der Warburg noch in der Klinik besuch­te). Kurz dar­auf galt er als geheilt.

In Warburgs Gehirn kon­ver­gier­ten offen­sicht­lich zwei Arten der Welterfahrung: ein logi­sches, linea­res Denken, das sich in Sätzen und abstrak­ten Begriffen arti­ku­liert; und ein asso­zia­ti­ves, zir­ku­lä­res, sprung­haf­tes Empfinden von Symbolen, Bildern, Stimmungen. Was ent­stand aus die­ser eigent­lich kaum mög­li­chen Symbiose, was sah Warburg? Es gibt kei­nen Weg, das gänz­lich zu rekon­stru­ie­ren. Man muss es erfin­den. Und das ist es im Wesentlichen, was Stephen G. Rhodes getan hat.

Kunst als Häutung

Natürlich ist Warburg nur ein Ausgangspunkt, den Rhodes mit einem Netz von Verweisen und Anspielungen umklei­det, das kreuz und quer durch die Kunst- und Kulturgeschichte geht. Allein über die sym­bo­li­sche Bedeutung der Schlange in alten Mythen und Ritualen, in der Psychoanalyse oder in Beziehung zur Skulptur als Kunstform selbst könn­te man gan­ze Doktorarbeiten schrei­ben (und zuge­ge­be­ner­mas­sen klin­gen Rhodes’ eige­ne Verlautbarungen manch­mal so, als habe er eine sol­che Doktorarbeit schon in der Schublade). Doch zugleich ist es auch der Versuch einer höchst indi­vi­du­el­len Übertragung: Rhodes schreckt nicht davor zurück, sich selbst als Subjekt wie auch als Objekt ins Spiel zu brin­gen, etwa als Figur in ein­zel­nen Filmsequenzen. Es ist ganz und gar der Versuch, sich die Strukturen des Traumas zu eigen zu machen, eine unge­wohn­te Ordnung über die Dinge der Natur und der Geschichte und über die Selbstbeschreibung zu legen. Doch die­ser Versuch ist immer auch mit einem Gestus der ton­gue-in-cheek ver­knüpft. Rhodes ist zu sehr Kind des aus­ge­hen­den 20. Jahrhunderts, um nicht zu wis­sen, dass unter jeder Oberfläche nur eine neue Oberfläche war­tet, dass die (Selbst-)Häutung nicht etwas latent Verborgenes her­vor­bringt, son­dern schlicht­weg etwas Neues.

Insofern mag die Kenntnis des Umfelds hilf­reich sein, um Rhodes bei sei­nem Projekt zu fol­gen; doch letzt­lich ent­zieht sich die Wirkung sei­nes Werks der Kontrolle. Die Assoziationen des Betrachters müs­sen die Leerstellen fül­len.

Unter Augenzwang

«Unter Augenzwang ent­stand der Traum». Dieser Vers von Gottfried Benn – wie fast alle Verse von Gottfried Benn – ist gleich­zei­tig lako­nisch und unge­mein pathe­tisch, gleich­zei­tig zynisch distan­zie­rend und beschwö­rend. Er drückt dar­um ziem­lich genau die merk­wür­di­ge Doppelcodierung aus, die auch die Installation von Stephen G. Rhodes kenn­zeich­net. Der thea­tra­li­sche Raum, in dem man sich befin­det, könn­te das nächt­li­che Sanatorium sein, über­la­gert mit bedroh­li­chem Sound und unheim­li­chen Bildern (dem «Augenzwang» Warburgs). Doch es könn­te genau­so­gut auch ein moder­ner Nachtclub sein, in dem eine deka­den­te Party gefei­ert wird (ein Nachtclub mit Gummischlangen auf dem Boden, aber wie­so nicht). Das Ganze ver­liert viel von sei­nem Schrecken, weil es in kei­nem Moment ver­hehlt, wie sehr es gemacht ist, wie sehr wir zu den Abgründen des Traumas nicht mehr unschul­dig, son­dern nur noch auf dem Umweg über einen wuch­ti­gen Apparat von Zeichen und Inszenierungstechniken vor­drin­gen kön­nen (auch in die­ser Hinsicht ganz ähn­lich wie ein moder­ner Nachtclub).

Archiv der Ängste

In einem Text zur Ausstellung spricht Rhodes davon, «das Archiv exo­ti­scher Ängste zu ver­wal­ten». Exotische Ängste – Fremdes, Unerklärliches, Unheimliches, das man aber gleich­wohl wie in der büro­kra­ti­schen Institution par excel­lence, dem Archiv, nach klar defi­nier­ten Regeln ord­nen, sam­meln, arran­gie­ren und unter­su­chen kann. Dieses Paradoxon cha­rak­te­ri­siert nicht nur Warburg, den ratio­na­len Wahnsinnigen. Es cha­rak­te­ri­siert auch das Werk Stephen G. Rhodes’. Denn tat­säch­lich vari­iert Rhodes ein Thema, das die Moderne nun seit Jahrhunderten durch­zieht: den Riss zwi­schen Ich und Welt. Nur dass es ein Ich ist, das sich selbst nicht zu fas­sen bekommt und – und das ist der Unterschied zur klas­si­schen Moderne – die gan­ze Zeit weiss, dass es sich selbst nicht zu fas­sen bekommt. Das Spektakel ist durch­aus selbst­iro­nisch, man grinst bis­wei­len unwill­kür­lich.

Ist Rhodes damit qua­si der Tarantino des Bildungsbürgertums? Ist sein von Schlangen, Indianermystik und Gewaltfantasien durch­zo­ge­nes Werk die intel­lek­tu­el­le Variante der Medizinmann-Szene aus «Natural Born Killers»? Bei Rhodes’ Vorliebe für Popkultur-Zitate ist das gar nicht so weit her­ge­holt. E. H. Gombrich, der Verfasser der ersten gros­sen Warburg-Biographie, warn­te: «Das Inferno, in das er hin­ab­stieg, soll­te nie­mals roman­ti­siert wer­den.» Wenn Rhodes mit sei­nem Werk «The Law of the Unknown Neighbor: Inferno Romanticized» ver­sucht, Warburgs Geistesleben mit pom­pö­sem dra­ma­tur­gi­schen Aufwand in den Mittelpunkt zu stel­len, dann scheisst er auf die­se Warnung (was das angeht sehr ame­ri­ka­nisch). Doch muss auch beach­tet wer­den, dass er dies trotz allem mit einer unver­kenn­ba­ren Ehrfurcht vor der dunk­len, ver­bor­ge­nen Tiefenschicht der Psyche, der Symbolik, des Rituals tut, viel­leicht sogar vor der Magie (was das angeht wie­der­um sehr alt­eu­ro­pä­isch).

Rhodes ist ein Profi, der mit allen post­mo­der­nen Wassern gewa­schen ist. Er weiss sehr genau, was er tut und wie er es tut. Doch sein Ehrgeiz geht dar­über hin­aus, ledig­lich ein mul­ti­me­dia­les Feuerwerk der Diskurse abzu­bren­nen. Er ist auf der Suche nach Erlebnisformen, nach Organisationsweisen der Erfahrung, von denen noch nie­mand sagen kann, zu was sie füh­ren könn­ten. Zu einem neu­en Umgang mit der Angst? Jedenfalls soll­te man Rhodes im Auge behal­ten. Nicht unbe­dingt, weil er wahn­sin­nig ist; son­dern weil er ein ideen­rei­cher Künstler ist, und sein Werk ein Erlebnis.

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