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Viel Joyce, ein biss­chen Cage und Borchert

Die Strecke muss er zwi­schen 1918 und 1920 dut­zend­mal gegan­gen sein: Von der Zürcher Haldenbachstrasse 12 zur dama­li­gen Augenklinik, heu­te Universitätsspital. James Joyce, gran­dio­ser Dichter, begna­de­ter Schriftsteller, Mitbegründer der moder­nen Literatur. James Joyce, lebens­lan­ger Säufer, stets mit einem Bein am finan­zi­el­len Abgrund, Kritiker der katho­li­schen Kirche und Verfasser von obszö­nen Inhalten.

Ein bio­gra­phi­scher Abendspaziergang

Genau die­se Gegensätze der Figur James Joyce wur­den von den Masterstudenten und ‑stu­den­tin­nen Theater der Zürcher Hochschule der Künste auf ihrem Rundgang «Stadtlesen: Walk through Joyce» wun­der­bar her­aus­ge­ar­bei­tet. Direkt vor Joyces alter Eingangstür an der Haldenbachstrasse wur­de das Publikum in Empfang genom­men und dann etap­pen­wei­se bis an die Universitätsstrasse 9 geführt.

Studierende beglei­te­ten die Strecke und rei­cher­ten sie per­for­ma­tiv an. Mitunter traf man auf Joyces Tochter Lucia, auf Carl Gustav Jung, auf Stephen Dedalus (James Joyces Alter Ego aus «A Portrait of the Artist as a Young Man») oder den Meister höchst­per­sön­lich. Sie alle wuss­ten Anekdoten über Joyces Leben zu erzäh­len, aus «Ulysses» zu rezi­tie­ren, über sei­ne Augenkrankheit zu berich­ten. Oder auch über den Briefwechsel mit Marthe Fleischmann, sei­ner angeb­li­chen Affäre, die bloss eini­ge Häuser wei­ter gewohnt haben soll.

Besucherstrom vs. Erzählstrom

Schade nur, dass die im Grunde sorg­fäl­tig vor­be­rei­te­ten und lie­be­voll ein­stu­dier­ten Sequenzen nicht das gesam­te Publikum zu errei­chen ver­moch­ten. Während man sich ins­ge­heim einen regen Besucherstrom her­bei­wünsch­te, wur­de die Grösse des Publikums auf die­sen Abendspaziergang zum Hindernis der Darbietung.

Während die Ohren des hin­te­ren Teils der Gruppe noch im Verkehrslärm des Zürcher Kleinstadtdschungels steck­ten, erzähl­te wei­ter vor­ne bereits ein Schauspieler von Joyces finan­zi­el­ler Abhängigkeit zu sei­ner Verlegerin oder von der inten­si­ven Beziehung zu sei­ner Tochter Lucia.

So wähn­te sich, wer hin­ten ging, eher in einer poly­pho­nen Geräuschkulisse à la John Cage oder bei Wolfgang Borcherts «Draussen vor der Tür»: Ganz zum Ende des Rundgangs fand fast die Hälfte des Publikums im klei­nen Café kei­nen Platz. Somit ver­pass­ten sie Teile der Grabrede für James Joyce und den Spuk, den Joyces Geiste dabei trieb.

Einäugig oder augen­zwin­kernd

Bleibt also die Erfahrung eines unter­halt­sa­men Abendspaziergangs durch ein wun­der­ba­res Quartier der Stadt Zürich, sowie eini­ge doch ganz schö­ne Bilder, die hän­gen blie­ben. So etwa James Joyce, wie er am Tisch sitzt, Zigaretten raucht und einen Brief an Marthe Fleischmann ver­fasst – fast wähn­te man sich zurück in der Zeit, als die Welt noch ein Stück lang­sa­mer vor­an­schritt. Wäre da nicht das hell leuch­ten­de Schild mit der Aufschrift «LadyFit» gewe­sen. Im Anschluss an die Szene wur­den den Spaziergängern Augenklappen ver­lie­hen. Vielleicht soll­ten die­se nicht nur Joyces Augenleiden illu­strie­ren. Vielleicht soll­ten sie dem Publikum nahe­le­gen, an die­sem Abend ein­fach ein Auge zuzu­drücken.

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