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«Rosie» und zum Glück kein Heimatfilm

Rosie ist böse, lieb­rei­zend, ver­schla­gen, gross­her­zig, anspruchs­voll, kokett, durch­trie­ben, lie­bes­be­dürf­tig, her­risch, zärt­lich, derb, treu… wun­der­bar! Es gibt sel­ten Filme, die einer Figur und damit einer Schauspielerin (Sibylle Brunner) einen sol­chen Resonanzraum bie­ten wie «Rosie». Das Werk ist denn auch eine Hommage an die Mutter des Regisseurs Marcel Gisler.

Starke Figuren

Dabei bil­det die «Mami» nicht ein­mal den Angelpunkt der Filmhandlung. Diesen Part spielt ihr Sohn Lorenz (Fabian Krüger). Er hält dem über­wäl­ti­gen­den Auftritt der alten Mutter sei­nen melan­cho­li­schen Blick aus dunk­len Augen ent­ge­gen. Lorenz ist ein schwu­ler Schriftsteller in Berlin, des­sen Romane und Liebschaften und sogar Bandscheiben sich mit 39 schon erheb­lich abge­nutzt haben. Rosie bringt das auf den Punkt: «Und wenn’d erscht füfzgi bisch, und dich kei­ne meh alue­ged?» Lorenz ist gebro­chen und bricht nicht, tastet sich unsi­cher in der Handlung vor­an, ent­fal­tet so sei­ne vol­le Präsenz.

Eine Entdeckung ist Lorenz’ jun­ger Geliebter Mario (Sebastian Ledesma). Kaum je in einem Schweizer Film spiel­te ein Schauspieler so glaub­haft und natür­lich den jun­gen Typen wie er, spricht, wie sol­che Jungs eben spre­chen. Die drei Figuren könn­te auch ein Pedro Almodóvar gezeich­net haben.

Durchkomponierter Film

Marcel Gisler insze­niert sei­ne Hauptfiguren fast wie auf einer Bühne. Sein Film bewegt sich nahe dem Theater. Nicht zufäl­lig hat der Regisseur mit Sibylle Brunner eine Bühnenspielerin gewählt. Zudem arbei­tet Gisler mit Vorhängen. Sieben Mal fährt Lorenz von Berlin nach Altstätten im St. Galler Rheintal. Er star­tet in Kreuzberg, reist Etappe für Etappe wei­ter – Avus – Schkeuditzer Kreuz – und kommt vor dem Schlussakt heim ins «Städtli». Diese Fahrten tei­len den Film nicht nur in die klas­si­schen acht Drehbuchsequenzen. Sie ermög­li­chen Ellipsen: Nach jedem Vorgang ist wie­der so man­ches gesche­hen. Überhaupt erzählt Gisler, wo not­wen­dig, schnell, hat den Mut zu Auslassungen. So gewinnt der Film einen ein­präg­sa­men Rhythmus.

Die Kamera (Sophie Maintigneux) nimmt an der Handlung teil, hat sozu­sa­gen ihre eige­ne Stimme. Oft ist sie unru­hig, bringt damit ein Kribbeln in die Szenen. Dann wie­der klebt sie die Figuren fast flä­chig vor einen Hintergrund und erschafft ein kom­po­nier­tes Poster. Besonders auf­fäl­lig sind unge­wohn­te Blickwinkel. Zuweilen ist die Kamera fast vom Geschehen aus­ge­schlos­sen. Der Ton (Reto Stamm) dringt dann nur noch halb durch. Das macht aus der Szene, in der die Mutter gegen alle Widerstände doch in ein Heim gebracht wird, eine all­ge­mei­ne, immer wie­der­keh­ren­de Tragödie alter Menschen. Der Hintergrundton ist bewusst ein­ge­setzt, deut­lich akzen­tu­iert. Als Lärm eines Sägewerks wird er sogar expli­zit zur Vertonung des ver­track­ten Lebens von Rosies Tochter (Judith Hofmann).

Realismus

Formell und tech­nisch ist «Rosie» ein ein­dring­li­ches Kunstwerk. Dies gera­de, weil die fil­mi­sche Schönheit gebro­chen wird. Die Aussicht ins Schneegebirge, das ach so grü­ne Rheintal, der Blick über den blau­en Bodensee sind hier gewiss nicht Ausdruck von «Swissness» oder ähn­li­chem Stumpfsinn. Ganz und gar nicht. Der Bauer auf sei­nem schnucke­li­gen «Heemetli» ist schwul. Mami Rosie säuft und hat sich den Sex aus­ser­halb der Ehe geholt: «Es bit­ze­li Freud muess ja au no si.» Dies alles wird nicht als Skandal, son­ders als Alltag in Szene gesetzt. «Rosie» und Rosie zei­gen uns einen befrei­en­den Realismus.

Der Film über­rascht mit immer wie­der neu­en Wendungen und bringt einen zum Lachen. Sogar die Sexszenen, sonst eher Stolpersteine für Regisseure, gehen leicht­füs­sig über die Bühne. Nur der Handlungsstrang um den Vater miss­lingt. Der Film greift hier auf plum­pe Erzähltricks zurück (Spuk!), um den toten Vater aufs Tapet zu brin­gen. Die angeb­li­chen Geheimnisse in die­ser Sequenz plap­pern die Figuren platt im Dialog aus. «Rosie» lässt sich jedoch nicht danach beur­tei­len, wie raf­fi­niert in jedem Fall die Handlung geführt wird. Die Stärke des Films liegt eine Schicht tie­fer. Die Heimkehr des ver­lo­re­nen Sohns ist eine Reise nach innen, das Wiedersehen mit Rosie ein Blick in die eige­ne Seele. Damit erin­nert der Film wie­der­um an Almodóvars «Volver»

Die Mutter-Sohn-Beziehung weist über sich hin­aus. Sie umfasst ein grund­le­gen­des Gegensatzpaar: Wiege und wei­te Welt, gestern und heu­te, Arbeitermilieu und Intellektuellenszene: «De erscht i de Familie, wo schtu­diert hät!». In den aller­schön­sten Szenen des Films fin­det bei­des zusam­men: Rosie und Lorenz zu zweit. Sie wech­seln nicht vie­le Worte. Sie offen­ba­ren in weni­gen Gesten ein tie­fes gemein­sa­mes Grundverständnis. Die gros­se Welt ist nicht nur in Berlin zu fin­den, son­dern auch im Herzen einer ein­fa­chen alten Frau in Altstätten. Rosie ist wun­der­bar!

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