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Porträts deut­scher Alkoholiker

Dokumentarfilm von Carolin Schmitz im Filmpodium Zürich

Ein Standbild: Ein lee­res Restaurant, zwei alber­ne Wasserspiele. Ein Einstieg, der irri­tiert. Es fol­gen ähn­li­che Bilder. Vor ste­hen­der Kamera oder in lang­sa­mer Fahrt. Eine Spur behag­li­che Einfamilienhäuser aus der deut­schen Nachkriegszeit zieht vor unse­ren Augen vor­bei. Die Off-Stimme einer Alkoholikerin setzt ein. Sie faselt nicht lan­ge rum, beginnt gleich damit, wie schwer sie sich tat, wäh­rend ihren Schwangerschaften nicht zu trin­ken.

Komponierte Bilder

Nun legt der Film sei­ne kla­re, geord­ne­te Konstruktion offen. Über sorg­fäl­tig kom­po­nier­te Bilder lau­fen im Off die Erzählungen von sechs heim­li­chen Alkoholikern, von drei Frauen und drei Männern. Unkommentiert. Daraus erge­ben sich qua­si zwei Filme. Es sind erstens die Schicksale der Süchtigen, wobei hier das Wort «Schicksal» mit Bedacht gewählt ist. Der Film begrün­det nichts, bewer­tet nichts. «Is’ so», lau­tet sei­ne Aussage.

Eine zwei­te, eige­ne Geschichte erzäh­len die Bilder. Sie ist anspruchs­vol­ler zu lesen als der gespro­che­ne Text. Der Bilderreigen führt uns durch Nordrhein-Westfalen. Er zeigt Verkehrsmittel, Autobahnen, ICEs, Flugzeuge und Baustellen, Freizeitanlagen, Fussgängerzonen. Es sind ver­stö­rend schö­ne Bilder von fast immer men­schen­lee­ren Szenerien. Richtig gespen­stisch wir­ken Bürolandschaften ohne Angestellte. Geradezu einen Narren gefres­sen hat die Regisseurin an Robotern, selbst­tä­ti­gen Automaten. Zweimal erscheint eine Orangensaftpresse, ein beweg­tes Gemälde in grün-oran­ge. Vor unse­ren Augen braust, surrt und rauscht eben­so ent­mensch­licht wie stö­rungs­frei das Bruttosozialprodukt.

Sachliches Sprechen

Die Off-Stimmen der Alkoholiker ver­zer­ren die­se Bildkompositionen und laden sie mit Panik auf. Allein dadurch ver­zah­nen sich bei­de Geschichten inein­an­der. Zudem ord­net die Regisseurin jedem Porträt eine eige­ne Bildauswahl zu, sei es die Berufswelt der Sprecher, sei es die gute Stube der Sprecherinnen. Die Porträtierten erzäh­len kon­trol­liert, mit ruhi­ger Stimme. Gefühlsmässige Aufwallungen unter­blei­ben. Tränen gibt es kei­ne. Ein Mann legt gera­de­zu poe­ti­sches Talent an den Tag. Wir hören Einzelheiten, die uns das Leben der heim­li­chen Trinker so nahe brin­gen, dass uns der näch­ste Schluck Alkohol bit­ter schmecken wird. Der Alkohol selbst bleibt im Film eben­so unsicht­bar wie die Alkoholsüchtigen. An sei­ne Stelle tritt Wasser, immer wie­der Wasser, als Fluss, Springbrunnen, Schwimmbecken.

Die heim­li­chen Alkoholiker packen ihr Leben: Sie  krie­gen Kinder, stei­gen die Karriereleiter hoch. Erstaunlich lan­ge geht das gut. Es scheint sogar, als wäre der Alkohol das Schmiermittel, das die Leistungsgesellschaft über­haupt erst in Schwung hält. Und doch ver­nich­tet er am Ende Beziehungen, Berufslaufbahnen und damit die mensch­li­che Existenz.

Ein Kunstwerk

Der Dokumentarfilm von Carolin Schmitz weist in sei­ner Aussage weit über das Thema Alkoholismus hin­aus. Die Wirtschaft pro­du­ziert wie am Schnürchen, aber nur dank des ver­steck­ten Gifts, das sie am Ende völ­lig ent­seelt und aus­höhlt. Die Produktion wird zum Selbstzweck. Auch for­mal sprengt Carolin Schmitz Grenzen. Sich macht mit «Porträts deut­scher Alkoholiker» den Dokumentarfilm zum Kunstwerk. Zu einem Kunstwerk, das begei­stert.

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