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Klangmahlerisch

Könnte man Mahlers Neunte auf der Zunge schmecken, dann wäre sie bit­ter­süss. Die Tour de Force für alle Sinne ist ein Wahnsinnswerk – und ein Stück auch das Werk eines Wahnsinnigen. Mahlers guter Freund Bruno Walter sag­te über ihn: «Mahler erschien mir in Antlitz und Gebaren als Genie und Dämon.» Ein biss­chen Irrsinn gehört also schon dazu, wenn sich zwei Hochschulorchester an die­sen Stoff her­an­wa­gen. Die Orchesterakademie 2012, bestehend aus den Orchestern der Zürcher Hochschule der Künste und der Haute éco­le de musi­que de Genève und dem Dirigenten Jesús López Cobos, hat­te den Mut dazu.

Der Dirigent hat sein Orchester fest in der Hand. Der Spanier ist ein Quereinsteiger, der erst wäh­rend sei­nem Philosophiestudium in der Funktion des Universitätschor-Leiters sein offen­sicht­li­ches Talent ent­deck­te. Dann aber zog er alle Register, lern­te bei den Besten und arbei­te­te mit eini­gen der wich­tig­sten Orchester der Welt zusam­men.

Eine unty­pi­sche Sinfonie

Mahler führ­te ein äus­serst tüch­ti­ges und züch­ti­ges Leben. Nach 1907, zwei Jahre bevor die 9. Sinfonie ent­stand, ging es aller­dings abwärts: Just nach­dem er sei­ne Stelle an der Metropolitan Opera in New York ange­tre­ten hat­te, starb sei­ne älte­re Tochter an Diphtherie. Kurz dar­auf stell­te man bei Mahler eine Herzkrankheit fest. Von per­ma­nen­ter Todesangst geplagt, flos­sen sei­ne Verzweiflung und die Auseinandersetzung mit dem Tod in sein Werk ein: Die 9. Sinfonie ent­stand.

Trotz dem für die Spätromantik klas­si­schen Aufbau mit vier Sätzen weicht die 9. Sinfonie vom Schema ab. Der erste und der vier­te Satz sind aus­ge­spro­chen ruhig. Laut und leben­dig wird es aty­pisch im zwei­ten und drit­ten Satz. Die gesam­te Sinfonie ist von einem dunk­len Timbre geprägt. Brutale Virtuosität und ent­waff­nen­de Pianissimi wir­ken auf den Zuhörer mal wie eine Bedrohung, mal wie ein lan­ger, sanf­ter Blick, den man nur mit Anstrengung erwi­dern kann.

Doch das auf­fäl­lig­ste Merkmal der 9. Sinfonie ist ein ande­res: Mahler treibt es mit den Dissonanzen auf die Spitze. Vor allem im drit­ten Satz, dem «Rondo-Burleske: Allegro assai. Sehr trot­zig» in a‑Moll, den Mahler zusätz­lich mit Referenzen anrei­chert und bis ins Unendliche ver­frem­det, rei­ben sich die Töne anein­an­der und set­zen den stim­mi­gen Klangmalereien ein jähes Ende.

Nur Mut, jun­ges Orchester!

Die Orchesterakademie 2012 hat nicht nur eine stol­ze Grösse, son­dern auch ein gros­ses spie­le­ri­sches Feuer. Dieser Funke springt vor allem dann über, wenn die zahl­rei­chen Musiker die vir­tuo­sen Allegri anpacken und in ihrer gan­zen Pracht in die Saiten oder Tasten grei­fen kön­nen. Aber die fei­nen Stellen ertö­nen gar zag­haft im vol­len gros­sen Saal der Zürcher Tonhalle. Zudem sind Übergänge von einem Thema ins näch­ste oft etwas unbe­stimmt und schei­nen zöger­lich. Auch wünscht man sich, die Solisten wür­den ihre lei­ten­den Stimmen etwas mehr aus­ko­sten. Und  dann sind da eben die­se Dissonanzen, wel­che mit mehr Mut und mehr Überzeugung ange­spielt wer­den müss­ten. Vielleicht ist es das jun­ge Alter der Musiker oder die Ehrfurcht vor dem Profidirigenten, aber an einem fehlt es der Orchesterakademie: Selbstbewusstsein.

Der zwei­te Satz gelingt dem Orchester am besten. Die Fagotte stim­men das leicht spöt­ti­sche Thema des 2. Satzes im Dreivierteltakt an. Als wür­den die Musiker eine Tür zu einem ver­wun­sche­nen Kinderparadies öff­nen, so spie­le­risch eröff­nen sich dem Publikum die Melodiebögen. Es ist der fröh­lich­ste Satz der Neunten, aber auch hier lächelt der Komponist schein­bar nur hin­ter vor­ge­hal­te­ner Hand. Könnte man es hören, so wäre es wahr­schein­lich das spöt­ti­sche Lachen eines Wahnsinnigen.

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