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Die lei­den­schaft­lich Unangepasste

Vor dem Tram stan­den Frauen, bis kurz vor der Abfahrt aus­schliess­lich Frauen. Sie waren zwi­schen fünf­und­vier­zig und sieb­zig, tru­gen das Haar kurz oder auf Kinnlänge und unter­hiel­ten sich in Gruppen. Sie sag­ten: «Ein Frauentram wird das!» oder «Hoi Trudi, dei­ne grü­ne Hose habe ich sofort gese­hen, die habe ich ja auch!» oder «Es gibt heu­te so viel in Zürich, man muss Prioritäten set­zen». Die Frauen tru­gen fast alle Foulards, gepunk­te­te oder karier­te, sei­den­fei­ne oder grob gehä­kel­te, alle far­big, sie erin­ner­ten an Schals, die man in Museumsshops kauft. Ähnlich der Schmuck: mil­chi­ge Glaskugeln, klo­bi­ge Quadrate aus Pappmaché.

Vor dem Tram stan­den Frauen, die wuss­ten, wer Laure (gespro­chen: Lor) Wyss war. Zum hun­dert­sten Geburtstag die­ser aus­ser­ge­wöhn­li­chen Frau fuhr ein Tram in der Stadt Zürich ihrer Biografie ent­lang. Bellevue, Paradeplatz, Stauffacher, Bahnhofquai, Schaffhauserplatz, Milchbuck, Irchel, Kunsthaus, Bellevue. Während der ein­stün­di­gen Fahrt lasen Barbara Kopp, Zürcher Schriftstellerin, und Regula Imboden, Walliser Schauspielerin, aus Büchern, die Laure Wyss’ Leben erzäh­len. Barbara Kopp ver­fass­te das aktu­ell­ste: «Laure Wyss. Leidenschaften einer Unangepassten», im Juni die­sen Jahres im Limmat Verlag erschie­nen. Ein Buch mit Sätzen wie die­sen: «Bueb, wir kön­nen nie hei­ra­ten» oder «Lor will frei sein, will sich nicht beu­gen» oder «Und immer die­ses Blau. Ein Sog, ein Rausch, eine nie gestill­te Sehnsucht. Wie wenn er einen Bergsee beschrie­be, kam ihm ihr Wesen vor: ‹frisch› und ‹hell›, ihre Art ‹klar›, ihre Gestalt ‹unbe­rührt›.

Laure Wyss wur­de 1913 in Biel gebo­ren, für den Vater Werner Wyss, er war Anwalt, Bieler Stadtrat und Berner Grossrat, war es selbst­ver­ständ­lich, sei­ne bei­den Töchter ins Gymnasium zu schicken. Nach der Matura begann Laure Wyss ein Sprachstudium in Paris, Zürich und Berlin. Während dem Zweiten Weltkrieg über­setz­te sie in Schweden Dokumente und Schriften aus der Widerstandsbewegung der skan­di­na­vi­schen Kirchen gegen die deut­sche Besatzungsmacht und 1945 wur­de Zürich ihr Wohnsitz, wo sie als freie Journalistin arbei­te­te. Vier Jahre spä­ter war sie geschie­den und allein­er­zie­hen­de Mutter eines aus­ser­ehe­lich gezeug­ten Sohnes.

Den Frauen im Tram, das anläss­lich des hun­dert­sten Geburtstags der Laure Wyss eine Stunde durch Zürich fuhr, ent­spran­gen lei­se «Ahs», als Biografin Barbara Kopp über die erste Ausgabe des «Tages-Anzeiger Magazins» (heu­te: «Das Magazin») vor­las. Laure Wyss war damals, Anfang der Siebziger, prä­gen­de Mitbegründerin die­ser wöchent­li­chen Beilage, die Zeitung und Verlag «Modernität und inter­na­tio­na­len Glanz» ein­brin­gen soll­te. Auf dem Cover die­ser ersten Ausgabe war eine Amerikanerin zu sehen: brau­ne Augen, viel Mascara und ein Helm mit der Aufschrift «Make War Not Love». Die Leser waren ent­setzt und schimpf­ten: «Unsere Frauen sind viel char­man­ter».

Laure Wyss war char­mant, gewiss. Das sieht man in Interviews, die sie dem Schweizer Fernsehen gab, oder im 1999 ver­öf­fent­lich­ten Dokumentarfilm «Laure Wyss. Ein Schreibleben». Aber Laure Wyss war natür­lich nicht in jener Art char­mant, wie das die Männer mein­ten, die dem «Tages-Anzeiger Magazin» Leserbriefe schrie­ben. Sie war eine Frau mit Herz und Kopf, sie hat­te eine Agenda. Sie kämpf­te für die Selbstbestimmung und Gleichberechtigung der Frauen, gegen den Kitsch des Muttertags, gegen die Benachteiligung als Mutter eines aus­ser­ehe­li­chen Kindes und sie för­der­te den Nachwuchs: Niklaus Meienberg, Hugo Loetscher, Peter Bichsel. Sie sag­te immer­zu: «Widerstand ist die Pflicht jedes ein­zel­nen».

Laure Wyss war eine Medienpionierin und Wegbereiterin der heu­ti­gen Gesellschaft. Vor dem Tram auf dem Bellevueplatz in Zürich stan­den Frauen, vie­le davon, ja, aber es waren Frauen mit grau­me­lier­ten, kur­zen Haaren, Brillen und Foulards, die man in Museumsshops kau­fen kann. Frauen, die 1971, als das Frauenstimmrecht ein­ge­führt wur­de, womög­lich dafür auf die Strasse gegan­gen sind, Frauen, die 1972, als das erste «Tages-Anzeiger Magazin» her­aus­kam, vor Freude kreisch­ten, inner­lich viel­leicht nur, weil sie mein­ten, öffent­lich nicht zu dür­fen. Vor dem Tram fehl­te eine Kohorte, wo war sie? Wo waren die Frauen, die das Haar lang und offen, ja roten Lippenstift und Vintage-Jeansjacken tra­gen? Wo waren die Frauen, die Michèle Roten lesen, Rennvelo fah­ren, unver­hei­ra­tet mit ihrem Freund leben und ein Kind erwar­ten, als frei­schaf­fen­de Grafikerinnen und Fotografinnen arbei­ten? Diese Frauen fehl­ten, bedau­er­li­cher­wei­se.

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