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Nach der Bohème

Die Wand neben dem Eingang zu den star­kart-Ausstellungsräumen ziert nie­mand gerin­ge­rer als Charles Baudelaire in grel­lem durch­drin­gen­dem Gelb. Direkt neben dem legen­dä­ren poè­te mau­dit hängt ein wei­te­res Portrait, das den Helden der Beat Generation, William Burroughs, zeigt. Ein lite­ra­ri­sches Kriterium wird es wohl kaum sein, das die bei­den ver­bin­det, eher ihr selbst­zer­stö­re­ri­sches Verhältnis zum Schreiben, ihr genia­li­sches Scheitern im Leben und ihre Vorliebe für Haschisch und diver­se Opiate. Bohème – ein klang­vol­ler und facet­ten­rei­cher Begriff, mit dem aller­dings lei­der in den letz­ten hun­dert Jahren zu viel Schindluder getrie­ben wur­de, um ihn noch ernst­haft benut­zen zu kön­nen. Bei star­kart (vom eng­li­schen und lei­der unüber­setz­ba­ren stark) bleibt die Frage des labe­l­ing glück­li­cher­wei­se bewusst aus­ge­klam­mert. Roman Leu, der Initiator der Ausstellung «Mir händs nötig», möch­te eher die Kunst zurück ins Leben brin­gen. Er orga­ni­siert die Ausstellung qua­si im Alleingang, er ist ange­spannt und über­mü­det, aber sei­ne Gesten bekom­men Pathos, wenn er betont, was ihm wich­tig ist: der kraft­vol­le, unver­fälsch­te Ausdruck, der nur aus einer Form der Kreativität ent­ste­hen kann, die sich nicht sofort in style über­set­zen lässt. Er selbst stammt aus der Graffiti-Szene und möch­te back to the roots: den Austausch von Erfahrungen, Ideen und Werken ermög­li­chen, ohne dass mäch­ti­ge Institutionen im Hintergrund bereits den Rahmen vor­ge­ben. Jeder kann sich und sei­ne Kunst prä­sen­tie­ren, und jeder Interessierte kann sich mit dem Künstler direkt in Verbindung set­zen. Das bedeu­tet zugleich eine Abgrenzung, und vor allem bedeu­tet es den Verzicht auf exter­ne Finanzierung.

Nicht zu cool

«Es darf nicht zu cool wer­den», sagt Roman Leu und lächelt aus­nahms­wei­se. Das Modell, von dem star­kart sich abgren­zen will, sind nicht nur die schicken Galerien des eta­blier­ten Kunstmarkts, von denen es in Zürich nur so wim­melt und in denen sich die­sel­be in-crowd wie über­all ver­sam­melt. Es ist eben­so das poli­tisch kor­rek­te Hipstertum, das das links­li­be­ra­le Feuilleton so liebt, weil es sich als leicht ver­dau­li­chen Rest einer wie auch immer gear­te­ten Sub- oder Gegenkultur insze­niert. «Man muss ver­hin­dern, in eine die­ser bei­den Kategorien zu rut­schen.» Das hat nichts mit Dogmatismus oder Ressentiments zu tun; «Mir händs nötig» soll kei­ne anti­ka­pi­ta­li­sti­sche Protestaktion sein, son­dern schlicht­weg eine gute Ausstellung, die auf unnö­ti­ges Drumherum ver­zich­tet und die Werke selbst wie­der in den Mittelpunkt stellt.

Ein erstes Anzeichen dafür, dass dies wirk­lich funk­tio­nie­ren könn­te: Die Leute, die sich nach und nach ein­fin­den, reden tat­säch­lich über Kunst (anson­sten bei Kunstveranstaltungen eher unüb­lich); aus­ser­dem sind sie aus­nahms­los locker, mit­teil­sam und freund­lich (dito). Man merkt, dass es etwas gibt, das sie ver­bin­det. Ein DJ beschallt die unver­putz­ten Räume, in denen alles ein biss­chen wie unter Wasser klingt. Es ist bei wei­tem kein Massenevent, aber die Stimmung steigt. Als es auf Mitternacht zugeht, ist es schliess­lich so, als wür­de das Haus zum Leben erwa­chen. In allen Ecken beginnt ein hek­ti­sches und enthu­sia­sti­sches Gewusel: Der Aufbau beginnt, und es ist eine merk­wür­dig gelun­ge­ne und lie­bens­wer­te Mischung aus Party und work in pro­gress. Als die Anarchisten von der frei­en Assoziation der frei­en Individuen spra­chen, müs­sen sie es sich unge­fähr so ähn­lich vor­ge­stellt haben.

Bunte Vielfalt

Entsprechend schwie­rig bis unmög­lich ist es, aus dem Nebeneinander vie­ler indi­vi­du­el­ler Positionen so etwas wie einen Trend extra­po­lie­ren zu wol­len. Die schril­len Avantgarde-Gesten gibt es heu­te kaum noch, und auch weni­ge ech­te ästhe­ti­sche Verirrungen; hin­ter jedem Werk steht Leidenschaft dafür, etwas Eigenes zum Ausdruck zu brin­gen, und eini­ge Werke ent­wickeln in der Tat eine star­ke und eigen­stän­di­ge Bildsprache. Den Großteil bil­den Fotografie und Malerei, von klas­sisch-impres­sio­ni­sti­schen Werken über sur­rea­le Fremdwelten,  bis zur bun­ten Bildsprache der Postmoderne vol­ler Popkultur-Referenzen. Doch es gibt auch Videoinstallationen, gro­ße Plastiken, Schnitzereien, Ton- und Gipsfiguren; Performances und Konzerte sind ange­kün­digt. Die Ausstellung bleibt sich treu, und das heisst: sie wan­delt sich wei­ter und ist nie voll­kom­men fer­tig. «Mir händs nötig» bleibt noch bis Ende September für jeden geöff­net. Der Besuch wird nach­drück­lich und unein­ge­schränkt emp­foh­len.

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