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Was von uns bleibt ist Müll

Fall Out Girl, die sich für Mary Jane Watson hält, und Bartleby sind auf einer gemein­sa­men Reise mit unter­schied­li­chen Zielen: Sie sucht ihre gros­se Liebe Peter Parker (Spiderman), Bartleby will zurück auf sei­nen Berg, wo der Comic-Händler sei­ne Ruhe genies­sen kann. So viel zum roten Faden. Was dann auf die­ser radio­ak­ti­ven Roadshow, wie die bei­den ihren ver­stör­ten Trip in die Zukunft nen­nen, geschieht, ist weit von jeder Form linea­rer Erzählung ent­fernt.

Das Verrückteste an «Fall Out Girl» sind sei­ne bei­den Hauptdarsteller. Scheinbar mühe­los fin­den sich Antonia Labs und Johannes Geisser in der chao­ti­schen Geschichte zurecht, schlüp­fen in ver­schie­den­ste Rollen, bewei­sen neben dem schau­spie­le­ri­schen auch ihr musi­ka­li­sches Talent und eine rich­tig gros­se, erfri­schen­de Portion Humor.

Die hei­li­ge Vierfaltigkeit

Im visu­el­len Zentrum der Produktion steht das Bühnenbild: Eine vier­tei­li­ge, falt­ba­re Wand. Diese dient mal als Paravan, mal als Projektionsfläche, als Partykulisse, als Versteck. Die Show spielt vor den vier Wänden; was sich dahin­ter abspielt, bleibt für den Zuschauer nur zu erah­nen. Bis der Schutz in der Zukunft dann zunich­te gemacht wird. Die Zukunft ist das Ende, sie gehört den Mutanten. Die radio­ak­ti­ve Strahlung hat alles Menschliche zer­stört. Was bleibt, ist der Kyffhäuser Berg bei Thüringen, unter dem sich Fall Out Girl und Bartleby in der Zukunft plötz­lich auf­fin­den. Dort war­tet Donald Duck, der nach einem ato­ma­ren Unfall im Kyffhäuser Berg «ent-gela­gert» wur­de, auf die bei­den. Er hat eine schlim­me Botschaft für Fall Out Girl bereit: Peter Parker ist zur Spinne mutiert und inter­es­siert sich nicht mehr für sei­ne Frau, son­dern nur noch für Fliegen und, nun ja, Spinnen.

Vier Impulse waren es, die zur Entstehung die­ses wir­ren Spektakels bei­getra­gen haben: Der 50. Geburtstag des Superhelden Spiderman, der Impuls der Musik – Johannes Geisser, der Bartleby auf der Bühne Leben ein­haucht, ist Musiker, Komponist und Schauspieler; so rei­chen sich Schauspiel und Rockoper die Hand. Der drit­te Impuls kam vom Theaterhaus Jena: Unterhaltung und Nachhaltigkeit sol­len in die­sem Stück über Radioaktivität zusam­men­spie­len, und dies wur­de von der frei­en Theatergruppe Mass & Fieber OST in aller Konsequenz umge­setzt. Schliesslich Input Nummer vier, das Thema sel­ber: Radioaktivität.

Fall Out Girl heisst: Gesellschaftskritik mit dem Vorschlaghammer. Skurrilität statt zer­mür­ben­den Vorträgen. Paranoia zu ver­brei­ten statt vor­sich­tig zu mah­nen. Untergangsszenarien zu pro­gno­sti­zie­ren statt Heilmittel zu suchen. Tchernobyl, Fukushima, Krebs und Haarausfall – der Zerfall auf jeder Ebene, der Kollaps fusst auf ato­ma­ren Experimenten und radio­ak­ti­ver Strahlung.

Spiegelbild einer kran­ken Welt

Warum soll eine Theaterproduktion über das Thema Radioaktivität auch nicht ver­strahlt rüber­kom­men? Wo Antonia Labs und Johannes Geisser auf Reduziertheit set­zen (beim Bühnenbild und den Requisiten), holen sie auf inhalt­li­cher Ebene und in Sachen media­ler Fülle dop­pelt und drei­fach nach. Sie las­sen Marie Curie und Orson Welles auf Video zum Publikum spre­chen. Sie füh­ren Zwiegespräche mit Albert Einstein und den Initianten und Mitarbeitern von Netix Corporation, der fik­ti­ven Firma, die mit künst­lich gewon­ne­ner Spinnenseide kriegs­taug­li­ches Material her­stellt und dafür selbst Spiderman gewin­nen konn­te.

Am Ende wer­den alle zu Mutanten, wider­fährt also jedem das Schicksal, das er ver­dient – auch der Menschheit. «Radioaktivität ist nicht das Todesurteil. Das Leben ist das Todesurteil», zitiert Bartleby. Eine kran­ke Welt ver­dient es, einen Spiegel vor­ge­hal­ten zu bekom­men. Und wenn die Spiegelung dann dop­pelt so krank aus­fällt, kön­nen eini­ge Dinge auf die­sem Planeten wirk­lich nicht in Ordnung sein. Mit Fall Out Girl steu­ern wir gera­de­wegs auf den Untergang zu – eine hal­lu­zi­no­ge­ne Party, ein orgas­mi­sches Spektakel, das sich in der sexu­el­len Verbindung von Mutant und Mensch ent­lädt. Und dann ist man plötz­lich weit, weit unter der Erde, begeg­net einem in die Jahre gekom­me­nen Donald Duck und rings­her­um liegt Abfall. Das Eingeständnis tut ein biss­chen weh: Was von uns bleibt ist Müll.

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