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Schlangen- und Apfelfragen

«Wie läufts mit dem Freiheitskampf?» Als Wilhelm Tell wäh­rend der fina­len Szene des ira­ni­schen Mythos um König Zahhak die Bühne betritt, ist dies unpas­send-pas­send. Unpassend, da der Held Feridon gera­de erfolg­reich gegen den bös­wil­li­gen Herrscher gekämpft hat,  ihm die Zeit als neu­er Regent aber von einem Engel ver­wehrt wird. Passend, weil die­ser Moment nicht nur den Wendepunkt der über 1000-jäh­ri­gen Geschichte, son­dern auch die­ses Abends dar­stellt.

«Tell / Zahhak» ist eine schwei­ze­risch-ira­ni­sche Co-Produktion der Zürcher, als Kult-Gruppe titu­lier­ten, Mass & Fieber und Don Quixote. An den dies­jäh­ri­gen Tellspielen in Altdorf zum 500-jäh­ri­gen Jubiläum des Tellmythos’ urauf­ge­führt, beab­sich­tigt das Stück einen Mythentausch. Das Konzept von «Tell / Zahhak» ist so sim­pel wie bestechend: Mass & Fieber neh­men sich der ira­ni­schen Geschichte des Königs Zahhak an, wäh­rend­des­sen Don Quixote ihre Version des Gessler-Mörders auf die Bühne brin­gen.

Im Fremden das Eigene

Don Quixote, die im Iran unter krea­ti­ven Prekär-Bedingungen arbei­ten, wo Aufführungserlaubnisse auch nach inten­si­ven Probezeiten nicht selbst­ver­ständ­lich sind, geben sich selbst­be­wusst. Mit volu­mi­nö­sen Stimmen in Farsi gesun­gen, wird inbrün­stig, aber ohne schmie­ri­gen Pathos geschau­spie­lert. Dramaturgisch wur­de der Stoff umge­krem­pelt: Nach einer komö­di­an­ti­schen Grussverweigerung folgt eine geball­te Ladung an Mordszenen (Vogt von Baumgartner im Dampfbad gelyncht/Landenberg von Melchtal bei der Schnapszeremonie erstochen/Showdown Tell-Gessler als Schwingerkampf), erst dann schiesst Tell auf den Apfel, wird ein­ge­sperrt, befreit sich und sti­li­siert sich zum tugend­haf­ten Held. Unterstützt von einer schwung­voll-leich­ten Körpersprache der Figuren, ergibt sich ein visu­ell wie aku­stisch klang­vol­les Stück, das mit «Obacht»-Einblendungen über ira­ni­sche Literatur- und Mythosgepflogenheiten auf­klärt und so im Fremden das Eigene erklärt. Wenn dann Tells Frau (die gan­ze Zeit im Tschador ver­hüllt) gegen Ende sich von ihrem selbst­ver­herr­li­chen­den Helden eman­zi­piert, so gibt das dem Stück noch zusätz­lich Gewicht.

Witzloser Witzbold

Umso schmerz­li­cher der Bruch zu Mass & Fieber. Ein Clown im gut gemein­ten Fasnachtsverschleiss tram­pelt auf die Bühne, ist hilf­los unlu­stig und ver­sucht zur Erzählung um König Zahhak über­zu­lei­ten. Die Schilderung der Geschichte ­– Bösewicht Zahhak geht Pakt mit ver­füh­re­ri­schen Dämonen ein, hirn­hung­ri­ge Schlangen wach­sen ihm aus den Schultern, tyran­ni­sche Herrschaft im Iran, ein­fa­cher Schmied wehrt sich, Feriod als pro­phe­ti­scher Held kämpft gegen Zahhak – ver­liert mit der Zeit ihren Schwung und wirkt insze­na­to­risch fad. Wenn Zahhak anfangs zu groo­vi­gem Beat mit Roller-Scooter-Gang den Iran erobert, ist dies gelun­gen kin­disch, doch fun­kelt sol­che Ironie nur sel­ten, allen­falls bei Ferdion als Kapuzenrapper, auf.

Bis dann Tell wie­der auf­tritt. Kurz nach ihm sind auch alle ande­ren Figuren, tot und leben­dig, ira­nisch und schwei­ze­risch, auf der Bühne. Gemeinsam set­zen sie zum Nachdenken über Helden an. Und kom­men zu einem über­ra­schen­den Schluss: «Helden sind die Fragen, die auf dem Friedhof lie­gen, die Antworten lie­gen bei den Lebendigen.» Fragen, die nach dem Stück im Heldengarten des Aussenbereichs mit­tels Skulpturen, Tondokumenten und Kurzstücken unab­schlies­send wei­ter gestellt wer­den. Freiheitskampf mehr­di­men­sio­nal.

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