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Lulu, ver­we­stes Stück Fleisch

Zum leben sind Sie zu jung. Also ist alles nur ein Spiel. Es kann nur ein Spiel sein. Der Einsatz ist mein Körper. Schön, die­ser Körper, ganz zart, nicht wahr? Zum Anbeissen. Kommen Sie, ich tue Ihnen nicht weh. Ich, eine Mörderin? Nein. Ich habe noch nie­mals jeman­den getö­tet, was kann ich dafür, wenn sich ande­re mei­net­wil­len umbrin­gen? Mein Fleisch heisst Lulu, ach­ten Sie auf die Spielregeln.

Das Spiel, Begierde

Plötzlich ist es ganz hell im Raum. Gestalten, alle­samt andro­gyn im Auftreten,  ren­nen die Bühne hoch (Bühne: Lisa Überbacher). Nur Lulu (Stefanie Mrachacz) bleibt oben ste­hen, die ande­ren pral­len an ihrer Unnahbarkeit ab. Sie gip­felt über ihren Untertanen. Ihre unver­schämt lan­gen Beine sind schnee­weiss, als wür­de eine unsicht­ba­re Eisschicht ihren Körper umge­ben. Das Spiel hat begon­nen.

Zu schmerz­lich ver­zerr­ten Tönen ver­greift sich einer nach dem anderen(Musik: Marcus Thomas). Hände fas­sen um Lulus schma­le Taille, grab­schen nach ihren Brüsten, ihren Schenkeln. Starke Arme drücken sie gegen die Wand, zwin­gen sie in die Knie. «Mit Gewalt errei­chen Sie bei mir gar nichts. Sie bekom­men mich noch lan­ge nicht!», flü­stert Lulu als Antwort auf die­se Übergriffe einem nach dem ande­ren ins Ohr. Sie bleibt dabei see­len­ru­hig, kein Funkeln ist in ihren Augen zu fin­den. Es ist doch alles ein Spiel und so leicht gewinnt kei­ner.

Immer wei­ter muss es also gehen, immer wei­ter und wei­ter. Bis nur noch der Letzte steht. Wer sich nicht an die Spielregeln hält, zu sehr begehrt und an sei­ner Begierde ver­zwei­felt, bleibt hin­ter den ande­ren zurück, sät als Leiche den Weg. Dr. Groll liegt schon unter der Erde. Schwarz (Urs Humbel) und Dr. Schön (Niklas Leifert) sol­len fol­gen. Passt auf in wel­che Fussstapfen ihr tre­tet. Wer mit dem Feuer spielt, ver­brennt sich nur gern zu schnell.

Der Einsatz, mein Fleisch

Lulu, eine Monstertragödie von Frank Wedekind stellt Fragen nach Macht, Liebe und Sexualität. In ihrer Bearbeitung spie­len Anne-Süster Andresen (Regie) und Mia Panther (Dramaturgie) mit der hauch­dün­nen Linie zwi­schen Begierde und Verzweiflung. Stetig schwankt die Atmosphäre zwi­schen kni­stern­der Erotik und kal­ten Machtgelüsten. Das Masterprojekt des Studiengangs Theater der Zürcher Hochschule der Künste macht aus Lulu so eine sado­ma­so­chi­sti­sche Tragödie, die alle Protagonisten gebro­chen zurück­las­sen soll.

Plötzlich ändert sich das Licht. Lulu steht noch immer ganz oben, nur hat sich die Perspektive ver­än­dert. Ganz oben heisst nun nicht mehr über jeman­den zu gip­feln, son­dern die höch­ste Stufe der Selbstdegradierung erreicht zu haben. Die vie­len Hände haben ihre Eisschicht zum schmel­zen gebracht, ihr Fleisch scheint abge­grif­fen. Der Duft der Verwesung haf­tet an ihr. «Begehre mich», «bit­te, peit­sche mich noch ein letz­tes Mal!» fleht sie. Die Musik ant­wor­tet mit dump­fen Tönen. Lulu hat das Spiel ver­lo­ren.

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