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Kurz und schmerz­voll

Gerade dort, wo die Herstellungsbedingungen pre­kär und Infrastruktur sowie Ressourcen knapp sind, ent­steht dring­li­ches und rele­van­tes Theater. Diese Beobachtung ver­an­lass­te die Verantwortlichen des Theater Spektakels, das Format der «Short Pieces» ein­zu­füh­ren. Das Doppelstück «Liebesbrief» und «No Time for Art» bestä­tigt die Notwendigkeit des neu­en Aufführungsformats ein­drück­lich. Der Belgier Ruud Gielens und die Ägypterin Laila Soliman bezie­hen sich dar­in auf den ägyp­ti­schen Frühling von vor einem Jahr.

Erstickender Kampf

Der «Liebesbrief», Gielens’ Solo, ist an Soliman gerich­tet. Jedenfalls spricht Gielens die Abschlussworte «Du fehlst mir» in Richtung der im Publikum sit­zen­den Regisseurin. Diesen Worte vor­aus geht eine dich­te, ja ersticken­de Szene, die mit der typi­schen Assoziation eines träu­me­risch Verliebten frei­lich nahe­zu gar nichts gemein hat. Ein ägyp­ti­scher Wachsoldat, von Gielens ver­kör­pert, kämpft vor­der­grün­dig gegen die Revolutionäre, vor allem aber gegen sich sel­ber. Er möch­te weg von der «Angst, Mörder des eig­nen Volkes zu sein», weg von den Stimmen der gefan­ge­nen Frau neben­an.

Die Worte haben etwas Manisches und bekom­men am Ende des Abends nach­träg­lich noch mehr Bedeutung. Dann näm­lich, wenn Videoaufnahmen des Kollektivs «Mosireen» zu sehen sind. Sie zei­gen die bru­ta­le und will­kür­li­che Gewalt der Militärs und der Polizei, blut­über­ström­te Körper, Menschen, die zusam­men­bre­chen. Die Bilder erschüt­tern, machen wütig, jagen Tränen in die Augen. Umso pla­sti­scher erscheint jetzt die Paranoia des Wachsoldaten. Er meint sich ver­folgt von den Fliegen im Raum. Und in ihren glän­zen­den Augen spieg­le er sich. Klar ist: Die Hölle, das sind nicht die ande­ren, das ist er selbst. «Hörst du die Schüsse auch?» Mit boh­ren­dem Blick fragt er Einzelne aus dem im Kreis ange­ord­ne­ten Publikum. Eine Tour-de-Force son­der­glei­chen. Wir wol­len da weg.

Solimans «No Time for Art» gibt sich nicht locke­rer als Gielens’ «Liebsbrief». Das Publikum wird dar­in zum Ankläger. Die Regisseurin aus Kairo, die dort die Deutsche Schule besucht und an der American University of Cairo Theater und Arabische Literatur stu­diert hat, ist für ihre unzwei­deu­ti­ge Haltung bekannt. Sie bezeich­net sich expli­zit als Teil des ägyp­ti­schen Widerstands und das Theater als Form ihres Protests. Die Revolution geht auf der Bühne wei­ter. Nicht doku­men­ta­risch, eher agi­ta­to­risch und par­ti­zi­pa­tiv. So lau­te­te der Titel der letzt­jäh­ri­gen Produktion (zusam­men mit Ruud Gielens und wei­te­ren Künstler-AktivistInnen) schon «Lessons in Revolting» (sie­he die Kulturkritik dazu). Und heu­er «No Time for Art»: Es geht auch dies­mal nicht um Kunst, son­dern um poli­ti­sche Handlung.

Die Revolution erleb­bar machen

Eine Handlung, die wie folgt aus­sieht: Im Publikum wer­den Dokumente ver­teilt, es sind Todesanzeigen der Widerstandskämpfer. Jede/r Zuschauer/in leiht den Verstorbenen seine/ihre Stimme und for­dert die Verantwortlichen zur Sühne auf. Das Mikrofon zir­ku­liert, andäch­tig wer­den die Worte gespro­chen. Ein sym­bo­li­sches Handeln im geschütz­ten Bereich des Theaters. Ausserhalb des Bühnenraums hört es nie­mand.

Oder? «Mostafa Essam, Age 20, medi­cal stu­dent and field doc­tor in Tahrir Square». Die gespro­che­nen Worte lösen Gedanken und Bilder aus, die einem nicht mehr los­las­sen, auch spä­ter, im Zug auf dem Heimweg, wei­ter beschäf­ti­gen. Wer war Mostafa? Wie sah er aus? Er war da, mit­ten in der Menschmasse, im Lärm der Geschosse und Hilfeschreie. Ein Medizinstudent noch in der Ausbildung, aber voll im Widerstandskampf. Wie vie­le sah er auf dem Tahrir-Platz ster­ben?

Gerade weil Gielens und Soliman kei­ne Zeit für Kunst haben, sind ihre Short Pieces unge­heu­er wert­vol­le Ankerpunkte des zeit­ge­nös­si­schen Theaterschaffens. Denn Realität und Imagination ver­schmel­zen dar­in zu einer neu­en Form des Erlebens. Alles wird unmit­tel­bar, intim und echt. Die Zuschauerinnen und Zuschauer sind nicht nur Publikum, son­dern die Revolution wird Teil ihrer eige­nen Erfahrungswelt. Ägypten ist hier. Eine schmerz­vol­le Erfahrung.

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