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Pianist mit Style

Die Tür ging auf und her­aus spa­zier­te ein jun­ger Bursche mit Jahrgang 1995, der aus­sah wie ein Sonnyboy aus der Nachbarschaft. Lässigen Schrittes ging er über die Bühne und setz­te sich mit dem schel­mi­schen Gesichtsausdruck eines Skaterdudes ans Klavier, als woll­te er sagen: «Hallo Leute, ich spie­le euch jetzt mal ein paar mei­ner Lieblingsstücke vor, okay?» Kurze Konzentrationsphase und er fing an.

Schon nach weni­gen Takten des fis-moll Präludiums von Bach war klar, dass hier kein dres­sier­tes Äffchen am Klavier sitzt, son­dern ein ernst­zu­neh­men­der Musiker.

Glaubwürdige Nonchalance 

«Alles in mei­nem Leben pas­siert natür­lich!», sag­te der blut­jun­ge Kanadier Jan Lisiecki mit sei­ner ent­spannt tie­fen Bassstimme ein­mal in einem Interview. Und die­se Natürlichkeit hört man auch in sei­ner Art, zu musi­zie­ren: Seine Töne «sin­gen», sei­ne Phrasierungen unter­stüt­zen den Fluss der Stimmen, sein Forte ist nie­mals hart, sein Piano nie­mals dünn, kurz, die Musik strömt unge­hin­dert durch sei­nen Körper und durch das Instrument in den Zuschauerraum.

Mit Lust, Courage und jugend­li­chem Übermut liess er sich wäh­rend sei­nes Spiels aus dem Moment her­aus inspi­rie­ren, dass es eine Freude war. Risikobereit in jeder Situation, aber immer im Dienste der Musik. Wo ande­re lie­ber auf Sicherheit spie­len, wähl­te er, wenn’s sein muss­te, auch mal ein rasend schnel­les Tempo oder koste­te einen Ritardandoübergang bis zum Äussersten aus.

Klanglich konn­te Lisiecki mit vie­len Farben über­zeu­gen. In der Etüde «Il lamen­to» von Liszt gelan­gen ihm bezau­bern­de Klangwirkungen, die ersten Takte von «Un sos­pi­ro» klan­gen wie das gros­se Einatmen vor einem Seufzer und die Melodietöne der c‑moll Etüde von Chopin schie­nen rich­tig zu glü­hen vor lau­ter Intensität.

Durch sei­ne ernst­haf­te und respekt­vol­le Haltung gegen­über den Werken traf Lisiecki immer den Charakter der ein­zel­nen Stücke: Sowohl die unge­stü­me Leidenschaft als auch die inti­men Töne in der 12. und 14. Variation von Mendelssohn rea­li­sier­te er mit elek­tri­sie­ren­der bezie­hungs­wei­se berüh­ren­der Wirkung, die Duftigkeit der F‑Dur Etüde von Chopin brach­te er cool auf den Punkt oder pfef­fer­te die ein­kom­po­nier­ten «fal­schen Noten» der e‑moll Etüde frech in den Raum.

Stil bewies er in der Wahl der Zugaben: Keine end­lo­se Aneinanderreihung von auf­trump­fen­den Reissern, son­dern ein wun­der­bar per­sön­lich gespiel­ter cis-moll Walzer von Chopin und – mit einem Augenzwinkern – «Alla tur­ca» von Mozart.

Bestechende Aufrichtigkeit

Die Etüdensammlungen von Chopin und Liszt wer­den von jun­gen InterpretInnen unter Inkaufnahme eines gros­sen Risikos ger­ne ins Konzertprogramm auf­ge­nom­men. Dies endet jedoch eigent­lich immer in einer bemü­hen­den Zurschaustellung von tech­ni­schen Fertigkeiten. Spätestens nach fünf Etüden hat unser­eins bei einer sol­chen Darbietung jeweils genug von die­sem Muskel-Posing. Nicht jedoch bei Lisiecki: Er kann die Aufmerksamkeit des Publikums hal­ten, weil er es gar nicht nötig hat, sei­ne Überlegenheit zu demon­strie­ren. Er scheint die Stücke in erster Linie zu spie­len, weil er sie über alles liebt und sei­ne Freude an die­ser wun­der­ba­ren Musik mit ande­ren tei­len möch­te. Diese lau­te­re Herangehensweise besticht und sie lässt sich aus jedem Ton sei­ner Interpretation her­aus­hö­ren. Zugleich ent­larvt sie all jene, wel­che sich mit Tricks auf­plu­stern wol­len.

Bitte nichts ändern!

Die Musikwelt kann sich nur wün­schen, dass Jan Lisiecki sei­nen unschul­di­gen Zugang zur Musik bewahrt, sich so natür­lich wei­ter­ent­wickelt wie bis­her und sich auf sei­nem eigen­stän­di­gen und ver­nünf­ti­gen Weg nicht beir­ren lässt. Er wird durch das Älter-Werden und das Musizieren mit guten Musikern von allei­ne rei­fen. Die Grösse, wel­che schon an vie­len Stellen auf­blitzt, wird mit der Zeit zu einem Charakteristikum sei­nes Spiels wer­den. Wenn er es schafft, sich nicht ver­bie­gen oder ver­hei­zen zu las­sen, dann darf man sich auf vie­le span­nen­de und inspi­rie­ren­de Konzerte mit ihm freu­en.

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