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Die Gemeinschaft hucke­pack neh­men

Das Vorhaben ist sim­pel: Eine Gruppe von Künstlern trägt zusam­men mit Besuchern des Theater Spektakels eine Skulptur über die Landiwiese, über die Brücke bis zur Saffa-Insel. Die Skulptur ist ein stump­fer Winkel, bestehend aus lau­ter zusam­men­mon­tier­ten Bierharassen, jeder Schenkel des Winkels schät­zungs­wei­se zehn Meter lang.Das Ding ist schwer. Die Umsetzung der simp­len Idee hängt von gewis­sen Bedingungen ab. «Wir brau­chen aller­min­de­stens zehn Leute, um das zu trans­por­tie­ren», sagt Kiguchi Noriyuki, der Kopf der japa­ni­schen Künstlergruppe Akumanoshirushi. Um 19.15 Uhr, eine Viertelstunde nach dem ange­kün­dig­ten Start, ste­hen gera­de ein­mal zwei Frauen da, jede knapp 1 Meter 60 gross. Dazu sechs Mitglieder von Akumanoshirushi, zwei von ihnen tra­gen Turbinenbräu-T-Shirts. Graue Wolken hän­gen am Himmel, hin und wie­der sind klei­ne Tropfen zu spü­ren. Die gros­se Aufmerksamkeit gehört zudem einem Strassenkünstler ein paar Meter wei­ter. Sein Beitrag hät­te laut Plan schon fer­tig sein müs­sen. Man war­tet und betrach­tet ehr­fürch­tig die zu trans­por­tie­ren­de Skulptur. – Und das Modell im Massstab 1:20, das preis­gibt, wor­in die logi­sti­sche Schwierigkeit des Unterfangens bestehen wird, wenn man ein­mal soweit ist. Die rie­si­ge Skulptur ist weit­aus brei­ter als die Brücke, die die Landiwiese mit der Insel ver­bin­det und die zudem auf der einen Seite von schma­len Pfosten gesäumt ist.

Als sich die Menschenmenge neben­an end­lich auf­löst, hebt Kiguchi Noriyuki sein Megafon an die Lippen und ruft in gebro­che­nem Deutsch: «Hoi zäme! Hoi zäme! Wir suchen noch Arbeitskräfte! Es gibt Gratisbier!» Und tat­säch­lich geht es weni­ge Minuten spä­ter zur Sache. Etwa 15 Leute packen an. Die Skulptur, die Akumanoshirushi zusam­men mit Szenografie-Studierenden der ZHdK ent­wor­fen hat, schwebt sofort in der Luft. Die anein­an­der geket­te­ten Harassen auf den Schultern und Händen der Spektakelbesucher müs­sen aus­se­hen wie ein star­rer Tausendfüssler. Kiguchi Noriyuki gibt Anweisungen. «Rechts! Geradeaus! Stopp! Links! Stopp!» Wer dem Tausendfüssler auf der Landiwiese in die Quere kommt, duckt sich, um nicht gerammt zu wer­den. Die Gruppe bahnt sich einen Weg durch die Menschenmenge und ihre Mitglieder kom­men nicht umhin, mit­ein­an­der zu kom­mu­ni­zie­ren, damit kein Unglück geschieht. Bald stöh­nen die ersten unter der Last. «Pause!» ruft Kiguchi Noriyuki kurz vor der Brücke und lässt die Tragenden die Skulptur abstel­len.

Probleme gemein­sam tra­gen

Das «Carry-in-Project» am dies­jäh­ri­gen Theater Spektakel ist bereits die Nummer 8 sei­ner Art, wenn auch das erste in der Schweiz. Auf die Idee kam der stu­dier­te Architekt Kiguchi Noriyuki bei sei­nem Nebenjob auf dem Bau, was in Japan vie­le sei­ner Gilde auf­grund der Arbeitsmarktlage zu tun gezwun­gen sind. Dort ver­dient er sein Geld als Lastenträger und er sagt, sei­ne Kollegen fän­den nicht nur immer wie­der ori­gi­nel­le Strategien, gros­se Gegenstände auf den Baustellen her­um- und in Gebäude hin­ein­zu­tra­gen, son­dern ihre Bewegungen sähen dabei auch noch aus wie ein aus­ser­ge­wöhn­li­cher Tanz. Das inspi­rier­te Kiguchi Noriyuki. «Es berei­tet einem eine schlich­te Freude, zusam­men mit ande­ren etwas zu tra­gen, etwas von einem Ort zu einem ande­ren zu trans­por­tie­ren.» Auch die tra­di­tio­nel­len japa­ni­schen Shinto-Feste, bei denen die Menschen gemein­sam einen Schrein auf ihren Schultern durch die Strassen tra­gen, haben den jun­gen Künstler, der auch als Regisseur Bühnenprojekte rea­li­siert, ange­regt.

So gekonnt und ästhe­tisch wie auf dem Bau läuft es in Zürich auf der Landiwiese wohl nicht. Aber das ist Wurscht. Die Ästhetik wird der Partizipation des Publikums unter­ge­ord­net. Längst sind alle mit­ein­an­der ins Gespräch gekom­men, Zuschauer haben sich um die Skulptur und ihre Träger geschart. Diese spre­chen Passanten an, bit­ten um Hilfe und nach der Pause sind es bereits min­de­stens 30 Leute, die mit­ma­chen.

Kiguchi Noriyuki wünscht sich, das Carry-in-Project ein­mal in einem Konfliktgebiet durch­zu­füh­ren. Menschen, die sich sonst bekämp­fen, sol­len gemein­sam anpacken. Wenn wir mit­ein­an­der dis­ku­tie­ren, suchen wir Lösungen für Probleme und ver­su­chen müh­sam, uns zu eini­gen. «Ich glau­be, wir könn­ten das Problem jeweils auch als Objekt sehen und es gemein­sam tra­gen. Das könn­te ein Weg sein, bes­se­re Lösungen für alle zu fin­den», so Kiguchi Noriyuki.

Es geht auch ein­fa­cher

Die Aufgabe auf der Landiwiese ist dann schnel­ler geschafft als erwar­tet. Die Bedingungen waren hier ins­ge­samt ein­fa­cher als in den bis­he­ri­gen Projekten, die alle­samt in Japan statt­ge­fun­den haben. Diesmal wur­de das Objekt nicht durch einen Eingang in ein Gebäude hin­ein trans­por­tiert und die Skulptur ist in ihrer Form viel simp­ler gestal­tet. Durch das offe­ne Gelände, nur mit der Brücke und der Menschenmasse als Hindernisse, ging das Zirkeln leich­ter. «Dafür haben wir die Skulptur vom Gewicht her schwe­rer gemacht als sonst», sagt Kiguchi Noriyuki und lächelt ein ent­schul­di­gen­des Lächeln. Fürwahr: Man wird mor­gen spür­bar dar­an erin­nert wer­den. Das wie­der­um sorgt für wei­te­ren Gesprächsstoff. Das Konzept funk­tio­niert also offen­bar auch in die­ser Form. Nach der Performance steht man bei­sam­men, trinkt das ver­dien­te Bier und plau­dert. Kiguchi Noriyuki strahlt. «Morgen gibt’s aus­ser Bier auch noch Orangensaft. Ich hat­te nicht mit so vie­len Kindern gerech­net, die auch mit­hel­fen beim Tragen!»

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