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Schmerz­haf­te Ob­jek­te mit Wi­der­ha­ken

Die Bildwelten, in die uns die Künstlerin Kathrin Borer im 18 Quadratmeter klei­nen Ausstellungsraum R57 ent­führt, sind beklem­mend. Es schmerzt, ihre Zeichnungen anzu­se­hen, und doch kann man sich ihnen nicht ent­zie­hen: Wie eine Spiegelreflexkamera setzt die Baslerin, Jahrgang 1972, einen Zoom auf ein Objekt. Präzise im Strich, bleibt in der Interpretation vie­les offen. Denn sie arbei­tet meist ohne Intention.

«Ich star­te mit einer Idee», erzählt sie, «und die­se ent­wickelt eine Eigendynamik.» Oft lässt sie sich von Orten inspi­rie­ren: Ateliers, in die sie ein­ge­la­den wur­de; Städte, die sie bereist hat. So ent­stan­den bei­spiels­wei­se die «Daydrawings Nightdrawings» (London Sheets) oder der «Backyard»-Zyklus (Ramallah Sheets) bei einem Besuch der Westbanks. «Ich ver­su­che, auf die gros­sen Fragen der Welt im Kleinen zu reagie­ren», beschreibt sie ihre Arbeit. In der Schweiz feh­le jedoch die Reibung, des­halb zie­he sie immer wie­der los.

Viele Deutungen sind mög­lich

So ent­stand bei ihrer Auseinandersetzung mit dem Gebiet, in dem Israel und Palästina inein­an­der über­ge­hen, das Gefühl, dass bei­de Seiten die glei­chen Sehnsüchte hät­ten. Dies drückt sie durch den Einsatz von Blau, der klas­si­schen Farbe der Romantik aus. Während ihre Bilder übli­cher­wei­se nur mit Bleistift oder Tusche gezeich­net sind, setzt sie punk­tu­ell Betonungen. Hier sind es tin­ten­blaue trans­pa­ren­te Häuschen, die unter einem Wachturm ste­hen, oder aus denen Zielfernrohre wie aus einem Panzer ragen. Irgendwann merk­te sie, dass ihre blau­en Objekte auf Weiss auch den Farben der israe­li­schen Nationalflagge ent­spre­chen. Eine Ironie des Schicksals, so wie die Tatsache, auf wel­cher Seite man gebo­ren wur­de.

In der Serie «Le tapis rouge» rollt sie ein­la­dend einen knall­ro­ten Teppich aus – doch der liegt auf einem elek­tri­schen Stuhl, auf der Stange eines Vogelkäfigs oder unter einem Schafott. Der Reiz ihrer extrem fei­nen Zeichnungen liegt im Widerhaken, der sich im Auge des Betrachters ver­an­kert. Exemplarisch zeigt sich dies auch an ihren Objekten: der Brille, deren Gläser innen mit Glasstacheln gespickt sind oder den Latschen, durch deren Innensohlen Messerklingen lau­fen. Borer nennt dies eine «Verschiebung des Alltags». Bei der «Schambürste», einer blau­en Zahnbürste mit strup­pi­gem Schamhaar statt Borsten, kann man sich fra­gen, ob man sie erre­gend oder ekel­er­re­gend fin­det. «Aufregend» ist sie auf jeden Fall.

Zeichnen als per­for­ma­ti­ver Akt

«Ich zeich­ne sehr lang­sam, es ist ein per­for­ma­ti­ver Akt», sagt Borer, die in der Tat von der Performancekunst kommt und noch heu­te am Anfang einer Arbeit nicht weiss, wo sie lan­det. Dann kap­selt sie sich ab und fokus­siert ihre Konzentration. Aus der Anspannung ent­ste­hen kon­den­sier­te Bilder. Es ist eine Bestimmtheit, die den Betrachter zwingt, die auf­ge­wor­fe­nen Fragen zu beant­wor­ten – so er sich denn dar­auf ein­lässt.

Nicht jeder flüch­ti­ge Besucher des Kunstraums in Zürich-Wipkingen wird einen Zugang zu Borers anspruchs­vol­len Arbeiten fin­den, doch ist es loh­nens­wert, sich den pro­vo­zie­ren­den Werken zu stel­len. Die Reduktion auf das Wesentliche ist ihre Stärke; eine Tugend, die der reiz­über­flu­te­ten Medienkultur häu­fig fehlt.

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