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Gesprochene Bässe und gesun­ge­ne Trompeten

«Das isch de Bahnhof, de Träffpunkt, de chlii Platzspitz, da gsehsch wär dezue ghört und wär nu abblitzt. Technochöpf, Rocker und d’Italos mit de derbsch­te Mode und de neu­sch­te Droge und all lue­ged so, als wür­deds de Ernschtfall pro­be», mit die­ser Anekdote, gut beob­ach­tet am Bahnhof Wädenswil, holt Jurczok 1001 sein Publikum und gleich­zei­tig sei­ne ersten Lacher ab. Doch Jurczok 1001 rezi­tiert nicht ein­fach Gedichte, son­dern spricht sei­ne Reime so rhyth­misch, dass man dazu tan­zen könn­te.

Der 37-Jährige, mit bür­ger­li­chem Namen Roland Jurczok, steht auf der Bühne des gros­sen Saals im Theater Neumarkt. Die Küchentheke, die Stühle, der Wäschekorb und das Klavier vom Bühnenbild des aktu­el­len Stücks «Woyzeck», sind an die Wände gescho­ben. Sie haben den zwei Mikrophonen, dem Loopsampler und dem Laptop Platz gemacht, die Jurczok für sei­ne Kunst braucht. Der gebür­ti­ge Wädenswiler mit pol­ni­schen Wurzeln und blas­ser Haut trägt ein ele­gan­tes Sakko, ein schwar­zes T‑Shirt mit V‑Ausschnitt und an den Füssen läs­si­ge Sneakers. Seine fei­nen Händen schmeis­sen die derb­sten Rapper-Gesten und kurz bevor man sich im ame­ri­ka­ni­schen Getto glaubt, durch­bricht der MC und Rapper sein Programm mit sei­ner fei­nen souli­gen Gesangstimme, die es bis in die höhe­ren Register schafft.

«D’Wältwuche»

«Woher söli d’Liebi neh? Woher söll s’Vertraue cho?», singt der Rapper mit weh­mü­ti­ger Stimme über einen Klangteppich aus Bläsern und Schlagzeug, den er vor den Augen, bezie­hungs­wei­se Ohren sei­nes Publikums auf­baut. Dabei bedient er sei­nen Loopsampler so dezent mit dem Fuss, dass man über­rascht ist, plötz­lich eine zwei­te Begleitstimme zu hören. Die gesun­ge­nen Songs erin­nern in Ansätzen an die Worksongs afro­ame­ri­ka­ni­scher Feldarbeiter und die Raps kön­nen mit denen bekann­ter Mundartrapper mit­hal­ten. Auch Mundart-Techno erschallt mit «Gimmer din Hit» glaub­wür­dig aus der Human Beatbox. Der Dichter ver­bin­det Rap und Lyrik, spielt mit abar­ti­gen Eigenarten des «Züridütsch», erzählt von Liebe, Selbstzweifeln, Sehnsüchten, Entscheidungsfindung und coo­len Jungs. Dabei bringt er sein Publikum immer wie­der zum Lachen und über­rascht mit phi­lo­so­phisch ange­hauch­ten Freestyle-Einschüben. Bei einer knapp fünf­mi­nü­ti­gen Performance, bei der er nur die Wortkombination «D’Wältwuche» in ver­schie­de­nen Betonungen wie­der­holt, steht so viel zwi­schen den Zeilen, dass das Gelächter auch vor den hin­ter­sten Reihen kei­nen Halt mehr macht. Politisch, wie die Texte noch waren, als Jurczok 1001 im Duo mit Musikerin und Autorin Melinda Nadj Abonji tour­te, sind sie in sei­nem aktu­el­len Soloprogramm «Spoken Beats» aber nicht mehr. Dafür erweist er sich als peni­bler Selbst- und Fremdbeobachter.

Anregende Werkschau

Die Abschlüsse sei­ner Songs wir­ken manch­mal etwas belie­big und nicht sau­ber auf den Punkt gebracht. Dafür hat der Sänger, Dichter und MC eine höchst prä­zi­se Ausdrucksweise und unter­hält sein Publikum, in dem sich blon­de, brau­ne, grau­me­lier­te bis sil­beri­ge Frisuren mischen, mit Witz und Ironie. Mit Sprüchen wie «Ich beglei­te mich ja auch sel­ber, also könnt ihr mich auch beglei­ten», sichert er sich die Sympathie und das Mitmachen der Zuschauer. Die wech­seln­de Werkschau von Raps über rhyth­misch erzähl­te Texte bis hin zu den neu­en souli­gen Songs ist anre­gend und zeugt von der Vielseitigkeit des Künstlers, der zu den Pionieren der Spoken-Words-Bewegung gehört. Das Publikum im Neumarkt klatsch­te ihn jeden­falls so oft auf die Bühne zurück, dass er sich genö­tigt fühl­te zu sagen: «Aso lueg, ich gang jetzt hin­de­re, und chum denn nüme vüre!»

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