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Zeichnerische Aneignungen der Welt

Werner Castys (*1955) klein­for­ma­ti­ge Zeichnungen der Reihe «all­täg­lich» (1997–2010) basie­ren auf Pressebildern, die uns nur all­zu bekannt vor­kom­men: Flugzeugwracks ent­zweit am Boden oder ken­tern­de Schiffe in stür­mi­scher See. Überschwemmte Strassen mit Autos als Inselchen oder Berghänge nach Lawinenniedergängen mit auf­ge­reih­ten Rettungssuchtruppen. Also Katastrophen und Zerstörung, Leid und Tod als schein­bar über­ge­ord­ne­te Themen. Es sind Motive, die aus der all­täg­li­chen Zeitungslektüre stam­men, vom Künstler gesam­melt und in Farbstift- und Grafit-Zeichnungen mit akzen­tu­ier­ter und ruhi­ger Farbigkeit sowie fei­nem Strich über­setzt wor­den. Doch ist das Sammeln der Pressebilder nicht auf inhalt­li­che Kriterien aus­ge­rich­tet, son­dern denkt Casty die Bildersammlung von ande­rer Seite her. Nicht das eigent­lich erschrecken­de und spek­ta­ku­lä­re Moment ist es, das ihn bei den gesam­mel­ten Bildern inter­es­siert, son­dern die rein visu­el­le Wirkung. Vergleichbar mit dem Erlebnis auf einer Wanderung, wo aus den vie­len belang­lo­sen Steinen des Weges plötz­lich jener beson­ders fla­che oder run­de her­vor­sticht, sucht Casty Bilder, die sei­ne Aufmerksamkeit auf­grund ihrer for­mel­len Komposition und ihrer Bildästhetik auf sich zie­hen.

Vom Umgang mit der Bilderflut

Dass vie­le Vorlagen aus dem Bereich des kata­stro­pha­len Ereignis stam­men, ist folg­lich nicht beab­sich­tigt, son­dern kor­re­liert – laut Einschätzung des Künstlers – vor allem damit, dass die­se Art von Bildern in den letz­ten Jahren deut­lich an media­ler Präsenz gewon­nen haben. Castys Zeichnungen sind inso­fern als spe­zi­fi­scher Umgang mit der oft­mals über­for­dern­den Menge an Bildern, jenen visu­el­len Aufdringlichkeiten zu lesen. Er sucht in der Flut der Masse nach beson­de­ren Bildqualitäten, nach Momenten, wo das ein­zel­ne Bild in sei­nen for­mel­len Eigenschaften noch über­zeu­gen und berüh­ren kann. Dies fest­zu­hal­ten, zu ver­in­ner­li­chen und künst­le­risch wie­der­zu­ge­ben ist das Ziel. Es führt zu fili­gra­nen Zeichnungen mit dicht­ge­setz­ten Strichen, wel­che das Laute und Plakative der Pressefotografien in eine stil­le Miniaturwelten trans­for­mie­ren.

Das Verfahren, sich aus der umge­ben­den Welt Bildfragmente anzu­eig­nen, wen­det Casty auch bei der Serie «Jäger und Wolf» (2007—2010) an. Die Arbeiten sind nicht mehr zeich­ne­ri­sche Umsetzungen von sei­nen gesam­mel­ten Pressefotografien, son­dern über­mal­te er einen Grossteil der Vorlage gleich direkt mit Grafitstift schwarz und lässt nur ein­zel­ne Figuren übrig, die er mit Farbstift an- und mit Lack über­malt. Die Personen wer­den dadurch zu stark for­ma­li­sier­ten Gestalten, die nur noch sche­ma­tisch erkenn­bar und ohne indi­vi­du­el­le Merkmale aus­ge­stat­tet sind. In ihrer Reduktion erpro­ben die Arbeiten jene Fähigkeit von Bildern, die in der all­täg­li­chen Fluterscheinung all­mäh­lich ver­lo­ren geht, näm­lich sich klar und unver­kenn­bar in die Erinnerung ein­zu­prä­gen. Die Werke wer­den zu einem Abtasten und Überprüfen des Potentials ein­präg­sa­mer und iko­nen­haf­ter Formen.

Zeigen und Verhüllen

Neben der Aneignung und Weiterverwertung, einem – im wört­li­chen Sinn – Recycling von Pressebildmaterial, foto­gra­fiert Casty auch sel­ber und vor allem dann, wenn er in die Berge geht. Es ent­ste­hen Aufnahmen von Gesteinsformationen und Geröllhängen, die er in einem zwei­ten Schritt mit Grafitstift auf Büttenpapier umsetzt; Zeichnungen, wel­che in ihrer Präzision an Siebdrucke erin­nern und klein­ste Detailspuren zei­gen. In die­ser Serie, «Flecken» (2011), lässt er aber Stellen des Papiers unbe­han­delt. Auf den ersten Blick wir­ken die­se Flecken wie Schneefelder. Aufschluss über die Partien, was sich also wirk­lich dort befin­det, erhält man frei­lich nicht. Die Leerstellen ent­hal­ten uns etwas vor, sind Verhüllungen und Verbergungen – gemein­hin Bildqualitäten, die reiz­voll und phan­ta­sie­an­re­gend sind.

Die Wände im Kunstraum R57, einem Kleinstausstellungsraum im Zürcher Kreis 10, sind momen­tan ganz­flä­chig gefüllt mit Castys Zeichnungen. Von Überfüllung kann aber nicht gespro­chen wer­den. Die Zusammenstellung der Bilder funk­tio­niert ohne gros­se Töne und nichts drängt sich in den Vordergrund. Vielmehr wird Raum zur Reflexion gelas­sen. Casty ver­steht sich auch nicht als poli­ti­scher Künstler, der die Überpräsenz von Bildern laut­stark anpran­gert. Vielmehr ist er distan­zier­ter Beobachter, der ein Fazit über unse­re all­täg­li­che, medi­al-über­flu­te­te Umgebung lie­fert. Vor die­sem Hintergrund sucht er mit sei­nen Zeichnungen nach dem Potential des ein­zel­nen Bildes sowie alter­na­ti­ven Strategien von Darstellungen. In die­ser beson­de­ren Suche kann durch­aus Kritik am eigent­li­chen Zustand gese­hen wer­den. Eine Kritik, die sich aller­dings erst auf zwei­ter Stufe ein­stellt.

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