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Fiktive Kriege und zer­stückel­te Klassiker

Der zwei­te Abend des Theaterfestivals «Hilde an der Sihl» bot, wie schon der erste, zwei Aufführungen, je eine aus Zürich und Hildesheim. Das Programm ver­sprach viel: «2001 – Drei Schweizer Geschichten» woll­te mit pri­va­ten Erinnerungen eine Geschichte der Nation erzäh­len, die mit dem November 2001 zu tun hat. «The tra­ge­dy form­er­ly known as Hamlet» mach­te sich auf die Suche nach dem Hamlet unse­rer Generation.

Was geschah im November 2001?

Mit der Frage im Kopf, was im November 2001 denn Spezielles vor­ge­fal­len war, ging man ins Theater, und wur­de Zeuge, wie drei jun­ge Leute abwechs­lungs­wei­se von ihrer Kindheit und Jugend erzähl­ten. Man wuss­te nicht so recht, was das soll­te, und die Aufführung begann einen zu lang­wei­len. Doch als die Drei zum November 2001 kamen und vom Privaten ins Politische, vom mög­li­cher­wei­se Realen ins offen Fiktive, änder­te sich das. Bomben aufs Bundeshaus, die Schweiz im Krieg, das war das anti-uto­pi­sche Szenario.
Auch wenn die Erzählung vom Krieg in der Schweiz nicht ins Detail ging, war sie irgend­wie schockie­rend. Ein kur­zer Einschub auf der Metaebene – eine Schauspielerin fällt plötz­lich aus ihrer Rolle und sagt immer­zu «Es gab nie einen Krieg in der Schweiz! Das sind nicht unse­re rea­le Erinnerungen. Wir erfin­den nur etwas.» – wur­de zum Schluss ziem­lich bru­tal auf­ge­löst, als die­sel­be Schauspielerin in ihre Rolle zurück­fiel mit der Schilderung, wie ihr Vater und ihre Schwester von einer Bombe getrof­fen wer­den.

In sei­ner Entwicklung über­ra­schend und gera­de durch die auf jeg­li­che Effekte ver­zich­ten­de Vorführung wir­kungs­voll, reg­te das Stück an – als Gedankenexperiment zum Thema pri­va­te und/versus kol­lek­ti­ve Erinnerung und nicht als poli­tisch sug­ge­sti­ves Stück (so von wegen «Die Schweiz muss immer bereit sein und braucht dar­um eine Fünf-Milliarden-Armee»). Es wird kein Feind genannt, kei­ne Ursache. Der Krieg kommt unver­mit­telt und ohne Hintergrund, als das schreck­li­che Ereignis, das er immer ist.

Hamlet-Variationen

Hamlet als betrun­ke­ne Partytouristin. Hamlet als kuschel­be­dürf­ti­ger Querdenker, der die Barriere zwi­schen Bühne und Publikum über­win­den will. Hamlet als sanf­ter Möchtegernheld. Einen bun­ten Reigen prä­sen­tier­te die Gruppe «Gianni Castelucci» aus Hildesheim, vier Schauspieler und zwei DJs, mit dem Ziel, den Hamlet unse­rer Generation zu fin­den. Nun wer­den im zeit­ge­nös­si­schen Theater ger­ne klas­si­sche Stoffe neue inter­pre­tiert, abge­wan­delt, ver­frem­det – aber so weit vom Text ent­fernt man sich doch sel­ten.

Was hat­te das über­haupt noch mit Shakespeare zu tun? Wer ist denn Hamlet über­haupt? Ein Königssohn, der sich für den Mord an sei­nem Vater rächen will und also sei­nen Onkel/Stiefvater und sei­ne Mutter umbringt und selbst dabei drauf geht. Doch wie wäre Hamlet heu­te? Was macht ihn aus? Sein Durst nach Rache, sei­ne phi­lo­so­phi­schen Zweifel, sei­ne spruch­rei­fen Zeilen? Keine ein­zi­ge davon wur­de zitiert. Erst gegen Schluss ver­such­ten die Schauspieler Szenen aus dem Stück zu spie­len, sie woll­ten Rache üben respek­ti­ve die Rache dar­stel­len, ver­such­ten es dabei mit ver­schie­de­nen Kunstgriffen:  Kunstblut, Plastikschwerter, Ohrfeigen aus dem Publikum – es gelang nicht so recht.

Das Publikum kam oft zum Einsatz, wobei manch­mal nicht klar wur­de,  ob jemand ein­ge­weiht oder wirk­lich alles so frei impro­vi­siert war. Manche Zuschauer waren unter­hal­ten, man­che ver­är­gert, und im Nachgespräch, das in eine Party über­ging, wur­de stun­den­lang über das Stück dis­ku­tiert – was das nach­träg­li­che Schreiben dar­über nicht ein­fa­cher macht. Um doch noch ein per­sön­li­ches Fazit zu zie­hen: Als Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten des Theaters konn­te das Stück vie­les auf­zei­gen und wirk­te über­zeu­gend, auch wenn es das vor­der­grün­di­ge Ziel, den heu­ti­gen Hamlet zu fin­den, natür­lich ver­fehl­te.

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