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Von Faust und Faustinnen

Heinrich Faust, der Wissenschaftler und Gelehrte, der nur mit Hilfe des Teufels die knapp 14-jäh­ri­ge Margarete, lie­be­voll Gretchen genannt, zu eigen machen kann, zählt zu den facet­ten­reich­sten, rät­sel­haf­te­sten und fas­zi­nie­rend­sten Figuren in der dra­ma­ti­schen Literatur.
Doch wie es um das nur neben­bei erwähn­te jun­ge Gretchen steht, wur­de bis­her kaum erör­tert. Grund genug für Elfriede Jelinek, unbe­strit­ten eine der wich­tig­sten Theaterautorinnen der Gegenwart, ihr zwei­tes Sekundärdrama «FaustIn and out» ganz die­ser Frau zu wid­men und es zu wagen, Goethes Faust aus einer ganz weib­li­chen Perspektive zu betrach­ten. Inspiriert von dem Fall Fritzl schlägt die öster­rei­chi­sche Autorin Brücken zwi­schen dem Gretchen, das von Faust betro­gen in einem Kerker ihrem Ende gegen­über­steht, und den wah­ren Begebenheiten. Auf die Gelehrtentragödie folgt also die Gretchentragödie.

(Un)schuld und Väter

Der tsche­chi­sche Regisseur Dušan David Pařízek liess die aus­er­wähl­ten 30 Zuschauer für Jelineks Uraufführung ein­mal in die Tiefen des Zürcher Schauspielhauses, genau­er in das schall­ge­dämm­te Musikzimmer. In jenem klau­stro­pho­bi­schem Raum, aus wel­chem der ein­zi­ge Kontakt zur Aussenwelt die Live-Übertragung des Fausts auf der Schauspielhausbühne war, erzähl­ten die drei Faustinnen mit viel Leidenschaft über das Leben und Leiden der Frau, das von Verlust, Depression und Sehnsucht durch­zo­gen ist. Beengend, bewe­gend und beschä­mend, doch auch mit viel Humor, krei­sten die Spielerinnen text­lich um das «schwa­che» Geschlecht und gin­gen dabei immer tie­fer, bis des Pudels Kern zu Tage kam. An allem Schuld ist die Frau, doch am Leid der Frau kann nur der Mann Schuld sein. Natürlich darf nicht irgend­ein Mann zur Verantwortung gezo­gen wer­den, denn klar liegt der Ursprung für den psy­chi­schen und phy­si­schen Schmerz beim Schöpfer, beim Erschaffer, also kurz gesagt beim Vater, egal ob beim leib­li­chen oder geist­li­chen.

Anknüpfung und Verwebung

Als die drei Faustinnen schluss­end­lich auch die Philosophie abge­hakt hat­ten und dies mit­tels Live-Kamera den Kollegen im Pfauen mit­ge­teilt wur­de, brach die Türe auf und Faust per­sön­lich bat Publikum und Spielerinnen die Kammer zu ver­las­sen. Das zuvor mit den­sel­ben Trenchcoats wie die Schauspielerinnen ver­se­he­ne Publikum beweg­te sich rasch über die Bühne, um sich dann gleich einen Platz zu ergat­tern und dem Schauspiel wei­ter bei­zu­woh­nen. Jelineks Sekundärdrama, wel­ches nur beglei­tend den Original-Faust flan­kie­ren soll­te, wur­de geschickt in die­sen ein­ge­wo­ben, sodass auch Jelineks Texte Hand in Hand mit Goethes Werk zu einem Ende fin­den konn­ten.

«FaustIn and out» im Schauspielhaus Zürich ist nichts für Menschen mit Platzangst oder schwa­chen Nerven, denn die har­ten Worte, die auf eng­stem Raume die bru­ta­le Realität eines unter­drück­ten und gefan­ge­nen Geschlechts wie­der­ge­ben, kön­nen einem die Nackenhaare zu Berge ste­hen las­sen.

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