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Genialer Dilettantismus

Das ita­lie­ni­sche Wort dilet­tan­te (pl. dilet­tan­ti; von lat. delec­ta­re ‘[sich] erfreu­en’) bezeich­net den «Liebhaber einer Kunst, die er nur zum Vergnügen betreibt», wäh­rend man unter einem Genie eine Person mit über­ra­gend schöp­fe­ri­scher Geisteskraft ver­steht. Manch ein Genie bleibt zeit­le­bens uner­kannt und fri­stet die Existenz eines Dilettanten. Das alte nomi­na­li­sti­sche Diktum esse est per­ci­pi, «Sein ist Wahrgenommenwerden» gilt hier uner­bitt­lich: Das Genie benö­tigt ein Publikum, will es denn als sol­ches erkannt wer­den. Das unter dem Moto Dilettanten & Genies lau­fen­de Literaturfest in der Remise woll­te nichts wei­ter, als solch eine Möglichkeit zu bie­ten, aber nicht so bier­ernst, wie die­se Einleitung es hier ver­mu­ten lässt.

Die bei­den Jungautorinnen Michelle Steinbeck und Rebecca Gisler sowie das Kulturmagazin Quottom luden zu einem Abend vol­ler Kreativität in das ehe­ma­li­ge Dienstgebäude Nr. 9 der SBB und sorg­ten mit Leichtigkeit für ein vol­les Haus. Die Ankündigung im Vorfeld war offen­sicht­lich auf brei­tes Interesse gestos­sen:

Sieben auf­stre­ben­de Schreibtalente prä­sen­tie­ren ihr Schaffen und demon­strie­ren damit ein­drück­lich den inno­va­ti­ven Esprit der jun­gen Literaturszene. Das anti­quiert und ver­staubt anmu­ten­de Konzept des schlich­ten Vortragens weicht weit­aus krea­ti­ve­ren Darstellungsformen: Literatur soll nicht muse­al aus­ge­stellt, son­dern in Lesungen, Performances, Installationen und Liedern gefei­ert und gelebt wer­den. Ein Anspruch, der zumin­dest teil­wei­se erfüllt wur­de.

Sprachpurismus, Redeschwall und Selbstreflexion

Den Anfang macht der Berner Michael Fehr, des­sen Erstling Kurz vor der Erlösung dem­nächst in den Regalen steht. In bewusst lang­sa­mem und abge­hackt klin­gen­dem Berndeutsch erzählt er «so eine Art Liebesgeschichte». Ein Mann ist allein. Der Himmel ist Blau. Das Häuslein ist dun­kel­braun. Aus Sommer wird Winter. Aus Winter wird Frühling. Die Jahre ver­ge­hen. Plötzlich ist da eine Frau. Er nahm die­se Frau zu sei­ner Frau. Fehr bedient sich einer Sprache, die auf das Allerwesentlichste redu­ziert ist. Eine Sprache, die nicht wuchert, son­dern mono­li­thisch den Raum besetzt und kla­re, fast arche­ty­pi­sche Bilder evo­ziert. So auch sei­ne Geschichten zu Bildern, zu Postkartenmotiven eines ver­schnei­ten Winterwaldes: «Der Wald ist unbe­re­chen­bar. Besonders für klei­ne Leute.» Bilder wer­den ins Sprachliche destil­liert, wer­den zu Essenzen, Sprachbildern. Das ist nicht nur bein­druckend, son­dern auch von einer Komik, die zugleich unter­hält und irri­tiert.

Rebecca Gisler, Mitorganisatorin die­ses Abends, öff­net dem Publikum die Gedankenwelt eines Ich-Erzählers; ein Fluss aus Erinnerungen und Beobachtungen, zwi­schen Vergangenheit und Gegenwart zieht den Hörer in sei­nen Bann.

Der zwei­te Berner Autor Sebastian Steffen prä­sen­tiert sei­ne Texte in musi­ka­li­scher Form mit der Gitarre. Auf den ersten Blick ver­schmitzt-char­mant, etwas ver­pennt wir­kend mit treu­em Hundeblick, steht er jedoch in kras­sem Kontrast zu Michel Fehr und zün­det ein wah­res Feuerwerk an Worten. Ein Bewusstseinsstrom ohne Punkt und Komma, nur sel­ten durch ein Luftholen unter­bro­chen und durch simp­le Gitarrenakkorde rhyth­mi­siert, mal in frei­er Form, mal in Reimen, reisst jeden der Anwesenden mit. Steffen berich­tet, erzählt, klagt; es geht um Probleme und Beobachtungen des Alltags. Mal lamen­tiert er über ein ver­sof­fe­nes Stipendium, Ärger mit den Frauen und unge­woll­te Vaterschaft, mal zeigt er sich als reu­iger Sünder, der im Suff wie­der ein­mal aus Versehen eine Band gegrün­det hat. Und all dies geschieht mit einer der­art extre­men Gelassenheit, dass es wit­zi­ger nicht sein könn­te.

Extravagant und fast etwas ari­sto­kra­tisch in eine Pelzrobe gehüllt, geht Michelle Steinbeck ihren Auftritt mit einer gehö­ri­gen Dosis Selbstinszenierung an, wenn auch nicht ohne Ironie. Ihre bös­ar­tig geschil­der­ten Rachefantasien ob erlit­te­ner Demütigung gip­feln in einen Mord aus Versehen und die damit ver­bun­de­nen Probleme, eine Leiche los­zu­wer­den. Das Reflektieren über das eige­ne Schreiben, ihren Drang zu schrei­ben und auch die Unfähigkeit zu Schreiben durch­dringt dabei per­ma­nent den Text. Ein wahr­haft mali­ziö­ses Vergnügen, in dem die Grenze zwi­schen Traum und Wirklichkeit sich in der Unkenntlichkeit auf­löst.

Ernsthaftigkeit, Komik und Literatur auf Bestellung

Claudia Amsler inter­pre­tiert Text als Collage, ein Gewebe aus Sätzen, Bildern und Klängen. An écri­tu­re auto­ma­tique erin­nern­de Sätze und Wortsequenzen wer­den asso­zia­tiv zu pro­ji­zier­ten Bildern, Fotografien, frag­men­tier­ten Gesichtern und Masken mon­tiert und ent­fal­ten dabei in ihrer Wirkung ein kryp­tisch-ver­stö­ren­des Raunen. Die Autorin spielt mit der Sprache, kul­ti­viert den Text als rhi­zo­ma­tisch wuchern­des Gewebe aus Strängen, die sie fort­lau­fend fort­spinnt und dann wie­der abrupt abreis­sen lässt. Die von Amsler gestell­te Schlussfrage «…und was will das?» kann aller­dings als sym­pto­ma­tisch für die­se per­for­ma­ti­ve Art von Literatur ange­se­hen wer­den: Die Autorin nimmt ihr Schaffen doch etwas gar ernst; etwas zu bedeu­tungs­schwan­ger wabert die Performance; das ein wenig irri­tier­te Publikum hät­te sich ver­mut­lich auch eine Prise Ironie gewünscht.

Den höchst­ver­gnüg­li­chen Abschluss die­ses Abends bil­det Anton Meier, ein Bünzli mit Schnauzbart und John Deere-Mütze, der in Wahrheit zwar eine Frau ist, was auf­grund der gross­ar­ti­gen Komik des Auftritts aber nie­man­den zu stö­ren scheint. Wir tau­chen ein in die skur­ril-para­no­ide Gedankenwelt eines spies­si­gen, ver­ein­sam­ten Kleinbürgers namens Gerhard, «ein spe­zi­el­ler Mensch mit spe­zi­el­ler Wahrnehmung», der sich am lieb­sten am See eines Parks auf­hält, um dort eine von ihm kon­zi­pier­te Turnübung zu prak­ti­zie­ren, die er den «Flamingo» nennt. Als Gerhard jedoch eines Tages einen mensch­li­chen Fuss im See fin­det, fühlt er sich als selbst­er­nann­ter «Kommissär» zur Auflösung eines kri­mi­na­li­sti­schen Rätsels ver­pflich­tet, in das eine Ente, die Angelfischer Schweiz, eine dicke Securitasbeamte namens Blüeler mit ihrem Hund Grimsel sowie eine Gruppe Jugendlicher um Corsin, Kevin und Krückenpatrick ver­wickelt sind. Das Publikum fin­det an die­ser urko­mi­schen Verschwörungsfantasie offen­sicht­lich Gefallen und dankt es aus­gie­big mit Gelächter und Applaus.

Auch wenn die­ser Abend der Welt kein neu­es lite­ra­ri­sches Genie offen­bart hat, so war er doch enorm unter­halt­sam und ein ein­drück­li­ches Beispiel für den krea­ti­ven und inno­va­ti­ven Geist, wel­cher gegen­wär­tig in der jun­gen Literaturszene herrscht. Das zeigt sich nicht zuletzt auch am Beispiel von Julia Weber, die mit ihrem Literaturdienst wäh­rend des gan­zen Abends auf Wunsch Texte mit ihrer Schreibmaschine pro­du­ziert hat. Aus dem eigens für den hier schrei­ben­den Kritiker ange­fer­tig­ten Gedicht stammt auch das Schlusswort:

«Kunst ist viel­fäl­tig.»

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