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Wo führt das hin?

Es gibt seit jeher Menschen, die von einer deutsch­spra­chi­gen Provinz in eine ande­re zie­hen, von Mecklenburg nach Bayern, von Sachsen oder Württemberg in die Deutschschweiz. Es wäre schlicht lächer­lich, dar­in ein Problem zu sehen. Demzufolge ver­spricht ein Stück mit dem Titel «Läbe ohni Dütschi» einen hei­te­ren Theaterabend, zumal klei­ne fie­se Mentalitäts- und Dialektunterschiede den Witz gera­de­zu her­aus­for­dern. Und in der Tat: Der Auftakt des Stücks bedient die­se Erwartung. Aber eben nur der Auftakt:

Zu Beginn das Gaudi

Ein Deutscher macht Kaderausbildung, zeigt den ange­hen­den Schweizer Führungskräften, wie man Untergebene in die Mangel nimmt. Es geht schief! Die betrof­fe­ne Untergebene weiss sich zu weh­ren und plau­dert die schmut­zi­gen Bettgeschichten der Chefs aus – zum Gaudi des Publikums. Doch schon im Anschluss dar­an, in einem mili­tä­risch auf­ge­zo­ge­nen Schweizerdeutschkurs, kommt eisi­ge Kälte auf, genau­so wie im Zusammentreffen einer deut­schen Pflegefachfrau und einer Schweizerin im Alterheim. Wohin läuft die­ses Stück? Dieser Satz fällt auch im Stück: Wo führt das hin?

Nach lang­wie­ri­gen Szenen, die um Geschichte und Herkunft des «Schweizervolks» krei­sen, erin­nert man sich nicht mehr dar­an, je ein­mal gelacht zu haben. Das ist gewollt, wie ein Abstecher in die Meta-Ebene zeigt. Und nun geht’s an den Speck: Die vier Schauspieler auf der Bühne ent­wer­fen eine frem­den­feind­li­che Utopie. Nicht nur die Deutschen wer­den aus dem Land geekelt, son­dern auch die Bewohner der latei­ni­schen Schweiz (Die «Griechen der Schweiz») – wor­auf der Westschweizer Tontechniker prompt das Theater ver­lässt. Als Zuschauer wäre man ihm an die­ser Stelle bes­ser gefolgt.

Der Albtraum

Denn nun sind sie unter sich, die­se ech­ten Schweizer. Sie grün­den eine Partei, die NSIP (Neue Schweizer Identitäts-Partei), und füh­ren dem Publikum einen Nationalsozialismus – oder bes­ser Nationalökologismus – Schweizer Prägung vor, einen «Faschswissmus», sozu­sa­gen. Es wird einem spei­übel dabei. Klar, man merkt wohl die Ironie hin­ter dem Spiel. Nur ist das Schauspiel der bei­den Frauen für die­se gewag­te Konstruktion zu wenig prä­zis. Es gelingt ihnen in die­sen Szenen nicht, in eine iden­ti­fi­zier­ba­re Rolle zu schlüp­fen. Sie schei­nen sich eher selbst zu insze­nie­ren. So wird man gezwun­gen, stän­dig den Verdacht zu ver­drän­gen, sie sei­en von der gespiel­ten Utopie sogar noch selbst fas­zi­niert.

Wo führt das also hin? Die Schweiz wird zu einem KZ, in dem Zwangsarbeit und Folter an der Tagesordnung sind. Zum Schluss erklingt die Hymne der NSIP, herr­lich ent­lar­vend und doch ent­setz­lich. Das Publikum ist sicht­lich ver­wirrt. Der Applaus bleibt dünn.

Zweck erfüllt

Ja, das Stück «Läbe ohni Dütschi» erreicht sein Ziel. Es schockt und warnt vor Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit. Bravo! Ausserdem bewun­dert man die gros­se Kunstfertigkeit hin­ter die­sen so wirk­sam wider­li­chen Texten, aus denen die beschrie­be­ne Utopie besteht. Applaus! Aber mir ist noch immer übel. Musste ich mir das antun? Nach all dem Horror, den Nationalismus und Faschismus im ver­gan­ge­nen Jahrhundert ange­rich­tet haben? Muss ich das gedank­lich für mein Land und für mei­ne Stadt durch­spie­len? Ich fin­de, nein.

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