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Creepy Creatures

Wenn Banken system­re­le­vant sein kön­nen, möch­te ich ein­mal sagen: Kunst und Kultur sind auch system­re­le­vant. Man könn­te Paul Granjon als Beispiel dafür neh­men.

Der fran­zö­si­sche Künstler-Erfinder-Entertainer bastelt vom süs­sen Roboter bis hin zur selb­stän­di­gen Schiessmaschine so ziem­lich alles an merk­wür­di­gen Kreaturen und singt zu ihrer Präsentation ulki­ge Lieder. Angefangen hat Paul Granjon mit der «cyber­ne­tic par­rot sau­sa­ge» – einer Wurst, wel­che nach­plap­pert, was man zu ihr sagt und dabei wie gestört mit ihrem Wurstende rotiert (hier zu sehen). Diese drol­li­ge Parodie auf die Wurstverliebtheit der deut­schen Kultur ist ein klei­nes Meisterstück intel­li­gen­ter Unterhaltung.

Roboter-Ohren und Mordmaschine

Tiere haben es Paul Granjon beson­ders ange­tan. Sie sind Symbole für die Natur, also das Gegenteil von Robotern mit ihrer enor­men kul­tu­rel­len Komplexität. Doch gera­de die (schein­ba­re) Natürlichkeit übt viel­fa­chen Reiz auf den Künstler in Paul Granjon aus: poe­ti­schen, wenn eine vogel­ähn­li­che Kreatur mit dem schie­fen Sänger um die Wette zwit­schert; selbst­iro­ni­schen, wenn sich Paul Granjon mit Cyber-Hundeohren und einem eben­sol­chen Hundeschwanz aus­staf­fiert. Diese unbe­hol­fe­ne Nachahmung von Natur ist schlicht­weg urko­misch.

Doch plötz­lich bringt Paul Granjon das Unbehagen ins Spiel, das im eng­li­schen Wort «cree­py» unüber­setz­bar aus­ge­drückt ist. Wenn Firmen vom Militär gespon­sert wer­den, ent­ste­hen Roboterwesen, denen man mit Faszination und Abscheu zugleich begeg­net (hier ein Beispiel). Auch wenn der Körperbau die­ser Maschinen wie von Kinderhand gezeich­net aus­sieht, kann sich das Auge der über­wäl­ti­gen­den Natürlichkeit ihrer Bewegungen nicht ent­zie­hen. Hier ist die Grenze zwi­schen Tier und Maschine in hohem Grade auf­ge­löst.

Paul Granjon setzt sich mit die­sen mili­tä­ri­schen Entwicklungen aus­ein­an­der, indem er sie über­höht. Er erfin­det (mit ein­fach­sten Mitteln und Open Source Software) eine selb­stän­di­ge Waffe, die den vor­bei­ren­nen­den Tüftler sucht und nie­der­schiesst. Wegen einer tech­ni­schen Störung begann die Mordmaschine im Walcheturm wie wild ins Leere zu schies­sen – und auch wenn wir dar­über gelacht haben, war die­ser Kontrollverlust nicht min­der beun­ru­hi­gend als wenn alles rei­bungs­los geklappt hät­te.

Kultur ist lebens­not­wen­dig

Paul Granjon ver­mischt Unterhaltung, Kunst und Forschung zu einem Hybrid, in dem alle Bereiche von­ein­an­der pro­fi­tie­ren. Die Unterhaltung wird intel­li­gen­ter, die Kunst nah­ba­rer und die Forschung mensch­li­cher. Ein exzel­len­tes Zeugnis auch für die Veranstaltungsreihe :digi­tal brain­stor­ming des Migros-Kulturprozents, die Paul Granjon in der Schweiz vier­mal auf­tre­ten lässt.

Doch war­um soll das jetzt system­re­le­vant sein?

Etwas fällt dank Paul Granjons Ausführungen an den lebens­ech­ten Menschen-Robotern auf: Niemand weiss bis­her so genau, was wir mit ihnen anstel­len sol­len. Darum las­sen wir sie tan­zen, Treppen stei­gen und Orchester diri­gie­ren. Nota bene alles kul­tu­rel­le Tätigkeiten. Die Kultur zeigt sich hier als erstes Zugangsfeld, in dem wir unse­re Zukunft zu ent­wickeln begin­nen. In dem wir Ideen aus­le­ben las­sen.

Etwas Zweites fällt auf. Was die Roboter bis zur Unverwechselbarkeit nach­ah­men, ist das Aussehen und die Bewegung der Menschen. Das Andere – das eigen­stän­di­ge Denken, das Erfinden, das gegen­sei­ti­ge Geschichtenerzählen, die Selbstreflexion – das sind Dinge, zu denen noch kei­ne Maschine fähig ist. Es ist also gera­de die Kultur, die noch von kei­nem Hochleistungslabor nach­ge­ahmt wer­den konn­te. Die wir also trotz aller Unwirtschaftlichkeit immer noch sel­ber lei­sten dür­fen.

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