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Wachtmeister Studer an der Criminale 2013

Das 75. Todesjahr des Schriftstellers Friedrich Glauser hat die Criminale zum ersten Mal in die Schweiz geführt. Die Criminale ist das jähr­li­che gros­se Treffen von Krimiautoren, Verlegern und den Liebhabern des Kriminalromans im deutsch­spra­chi­gen Raum. An der Criminale wird jeweils der Friedrich-Glauser-Preis ver­lie­hen, unter ande­rem für den besten Kriminalroman. Der Schauplatz der Veranstaltung ver­teil­te sich die­ses Jahr auf Bern, Solothurn, Thun und wei­ter Orte im west­li­chen Schweizer Mitteland. In die­ser Gegend war Glauser mehr­fach in Anstalten ver­wahrt, hier lie­gen eini­ge Schauplätze sei­ner Krimis. Zudem leb­te Wachtmeister Studer, der von ihm erschaf­fe­ne Polizeikommissär, in Bern.

Ein armer «Chejb»

Im Roman «Wachtmeister Studer» besucht der Kommissär den Schlumpf Erwin in sei­ner Gefängniszelle, einen ver­zwei­fel­ten Burschen, der anschei­nend einen Mord began­nen hat. Studer hat Mitleid mit dem Erwin. Er kann aber wenig Entlastendes für den armen Teufel fin­den. Studer geht, kehrt mit einem mul­mi­gen Gefühl in die Zelle zurück – gera­de noch recht­zei­tig. Erwin hat sich am Zellenfenster auf­ge­hängt. Studer holt ihn run­ter, schüt­telt ihn ins Bewusstsein zurück und flösst ihm aus sei­nem Flachmann Cognac ein.

Auch Glauser selbst war eine armer «Chejb», so wie der Bursche im Roman, der sich in sei­ner Trostlosigkeit umbrin­gen will. Der Autor über sich selbst: «1896 gebo­ren in Wien von öster­rei­chi­scher Mutter und Schweizer Vater. (…) Volksschule, 3 Klassen Gymnasium in Wien. Dann 3 Jahre Landerziehungsheim Glarisegg (Thurgau)». – Die Mutter starb, als Glauser vier war. Der Vater liess ihn bevor­mun­den. Ab 1920 folg­te ein ste­ter Wechsel zwi­schen Internierung in «Irrenhäusern», dann wie­der Flucht oder Entlassung, Gelegenheitsjobs. Der Autor leb­te kurz in Paris und Belgien, als Tellerwäscher und Kohlengrubenarbeiter, dien­te 1921–23 in der Fremdenlegion. In Nordafrika lern­te Glauser Haschisch ken­nen, in der Schweiz wur­de er mor­phi­um­süch­tig. Bei einer Verhaftung wegen Morphiumbesitzes unter­nahm er einen Selbstmordversuch.

Gott Detektiv

Diese Hintergründe deckt die Germanistin und Glauser-Expertin Christa Baumberger an der Eröffnung der Criminale in Solothurn auf. Sie hat Ausschnitte aus Briefen von Glauser zusam­men­ge­stellt, die Laszlo Kish, der erste Schweizer Tatort-Kommissar, vor­trägt. So ent­steht ein leben­di­ges Bild des Schriftstellers. Es hilft, die geschil­der­te Romanszene kla­rer zu deu­ten. Der Wachtmeister ist ein gestan­de­ner Mann, er hört er zu, er hat Geduld, han­delt nach sei­nem Gefühl, was Irrtümer nicht aus­schliesst. Studer ret­tet er den hilf­lo­sen Gefängnisinsassen, der selbst nicht mehr an sich glaubt. So erschafft sich Glauser sei­nen Übervater, eine Art Gottesersatz.

Damit sind wir mit­ten in der Psychologie des Kriminalromans. Im Krimi steht das rea­le Leben Kopf. Während im Chaos und im Leiden der Welt Gottes Gerechtigkeit nichts mehr zu rich­ten ver­mag und Mörder statt ver­ur­teilt reich und mäch­tig wer­den, fin­det im Kriminalroman der Detektiv unfehl­bar den Schuldigen. Das Unrecht wird gesühnt, wie in der Bibel. Der Kommandant der Kantonspolizei Solothurn, Thomas Zuber, kann sich an der Eröffnung der Criminale einen lei­sen Spott dar­über nicht ver­knei­fen. Wie ein­fach funk­tio­niert im Krimi zum Beispiel eine Beschattung! Wie anders sieht es in Wirklichkeit aus!

Krimi ab dem Fliessband

Weil das psy­cho­lo­gi­sche Muster des Krimis – wenig­stens im Grundsatz – sehr ein­fach gestrickt ist, wer­den Kriminalromane oft seri­en­wei­se her­un­ter geschrie­ben, von vie­len Autoren unter dem­sel­ben Künstlernamen. Dies wird an einer ande­ren Veranstaltung deut­lich. «Wie wir wur­den, was wir sind». Im Berner Hotel Alpenblick erläu­tern die Krimiautorin Almuth Heuner und der der Autor H. P. Karr «die Entwicklung des deutsch­spra­chi­gen Krimis seit 1945». Was sich etwas theo­re­tisch anhört, wird kurz­wei­lig und humo­ri­stisch vor­ge­tra­gen.

Der Kriminalroman ist kein in Deutschland ver­wur­zel­tes Genre. Die Leserinnen und Leser in Deutschland lern­ten den Krimi über bri­ti­sche und ame­ri­ka­ni­sche Vorbilder ken­nen. Mord- und Detektiv-Geschichten wur­den ab 1945 so sehr mit der angel­säch­si­schen Welt ver­bun­den, dass deut­sche Autoren unter eng­lisch klin­gen­den Pseudonymen wie zum Beispiel Jerry Cotton schrie­ben. Auch die Handlung spiel­te oft irgend­wo weit weg von Deutschland. Der DDR-Autor Erich Loest lässt sei­ne Handlung im Londoner Wimbley-Stadion spie­len, ohne dass er je dahin hät­te rei­sen kön­nen. Veröffentlicht wur­den die­se Krimis als Heftserien oder Fortsetzungsreihen in Zeitschriften. Bis in die 1970er oder 80er Jahre hin­ein gab es in Deutschland kaum Krimis von lite­ra­ri­schem Gehalt – ganz im Gegensatz zur Schweiz.

Wo Tulpen in Reih und Glied ste­hen

Damit wird die Bedeutung von Friedrich Glausers Werk deut­lich. Zwar ver­fasst auch Glauser sei­ne Krimis, um in sei­ner Not Geld zu ver­die­nen. Und auch die Studer-Romane erschei­nen zum gros­sen Teil als Fortsetzungsromane. Doch Glauser hat mehr im Sinn mit sei­nem Studer. Er will eine Botschaft trans­por­tie­ren. Er beglei­tet den Wachtmeister in die Welt der Anstalten, der Armenhäuser, zu geschei­ter­ten Existenzen und rand­stän­di­gen Figuren. Damit zeigt er eine Schweiz, die nichts mit dem bis heu­te pro­pa­gier­ten urtüm­li­chen Bauern und Hirtenland zu schaf­fen hat. «Die Tulpen ste­hen in Reih und Glied», heisst es in «Wachtmeister Studer». Der Ort: ein nichts sagen­des depri­mie­ren­des Kaff irgend­wo an der Bahnachse durchs Mittelland. Die Bewohner pen­deln aus­wärts zur Arbeit, damals schon, in der 1930er Jahren.

Für sei­ne Sichtweise auf die Wirklichkeit wählt Glauser die «ein­fa­chen Leute» als Zielpublikum. Literarische Kreise und die Literaturkritik inter­es­sier­ten ihn nicht. Auf die­sem Weg schuf Glauser die ersten deutsch­spra­chi­gen Kriminalromane mit lite­ra­ri­scher Qualität und wur­de zu einem der bedeu­tend­sten Schweizer Schriftsteller. Friedrich Dürrenmatt stell­te sich spä­ter in sei­ne Tradition, mit sei­nem Kommissar Hans Bärlach und dem Schauplatz Güllen. Heute ver­tritt unter ande­ren Hansjörg Schneider mit sei­nem Hunkeler den lite­ra­ri­schen Schweizer Kriminalroman. Der her­vor­ra­gen­de gemach­te Dokumentarfilm über Friedrich Glauser, der sein Leben und Werk erkun­det, ver­dient hier noch­mals eine Würdigung. Er wur­de in Solothurn gezeigt.

Die Wahl des west­li­chen Mittellands für die Criminale 2013 ist min­de­stens punk­to Glauser ergie­big. Die Schauplätze sei­nes Lebens lie­gen auf dem Präsentierteller, so etwa die «Irrenanstalt» Waldau in Bern. Die Ausstellung zur Geschichte der Psychiatrie an die­sem Ort lässt einen erah­nen, wie von Gott und Mensch ver­las­sen sich die Insassen füh­len muss­ten. In einer sol­chen Anstalt schrieb Glauser auch sein bedeu­tend­stes Buch: Den Fremdenlegionsroman «Gourrama». Das führt zum Gewinner des Glauser-Preises 2013, Roland Spranger. Er erschafft in sei­nem Krimi «Kriegsgebiete» die Figur eines Soldaten, der trau­ma­ti­siert von aus Afghanistan zurück­kehrt. Etwa auch ein armer «Chejb»?

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