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Still und ste­ril

Das gan­ze Theater, die gan­zen fünf­und­sech­zig Minuten, spie­len sich in Zimmer 508 ab. Zimmer 508 befin­det sich in einem fran­zö­si­schen Altersheim, wo alles ziem­lich still und ste­ril ist. Das Stück mit dem Titel «Les Vieux Os» beginnt so: Ein Raumpfleger betritt die Bühne bezie­hungs­wei­se Zimmer 508 und räumt es inak­ku­rat auf – Dreck wird unters Bett gefegt und die Habseligkeiten des ver­stor­be­nen Bewohners wer­den kur­zer­hand in den Mülleimer gewor­fen. Dann betritt eine hyper­ner­vös-Kaugummi-kau­en­de Krankenschwester den Raum, um ein paar Tabletten in einen Becher zu knal­len.

Theater ohne Worte

Nach die­ser Szene denkt sich der Zuschauer: Mann, ein Altersheim ist ja krass aso­zi­al. Und dann blickt er um sich: das rest­li­che Publikum ist im Altersheim-Alter ange­kom­men. Das rund fünf­zig­köp­fi­ge Publikum muss zwi­schen sech­zig und acht­zig Jahre alt sein. Warum tun die sich das nur an? Die schau­en ja unmit­tel­bar in ihre Zukunft! Ein fre­cher Gedanke ent­springt: Vielleicht gab es im Altersheim Freikarten, oder waren die Leute der­art ange­tan vom Untertitel des Theaters «tra­gi­co­mé­die visu­el­le sans paro­le»?

Dann end­lich betritt der neue Bewohner von Zimmer 508 die Bühne. Ein alter Herr mit Béret, Cordhosen und Lederkoffer. Und einem ver­äng­stig­ten Blick. Die Krankenschwester ist uner­träg­lich grob, reisst ihm die Kleider vom Leib und klei­det ihn in das blaue Altersheimoutfit – auf dem Rücken sei­ne Zimmernummer 508 wie im Knast. Nachdem der Monsieur in sei­nem neu­en Zuhause allein gelas­sen wird, kreischt jemand «Bonjooooouuur!» (obwohl es laut Medienmitteilung und Flyer ein Theater ohne Worte ist). Es ist eine ent­zücken­de Greisin, die frisch­fröh­lich und krei­schend Zimmer 508 betritt. Der Herr in Blau erschrickt. Sie möch­te Kontakt, er stösst sie grob weg, bis sie nicht mehr kommt, die Altersheimbewohnerin von Zimmer 673 – die Nummer auf ihrem blau­en Kleid ver­rät es.

Ein Dutt, ein Stock, ein Striptease

Der Sommer ver­geht (man erkennt die­sen an Liegestuhl und Sonnenschirm), Weihnachten kommt (man erkennt das Fest an der Klausenmütze des alten Mannes) und der Sommer kommt wie­der (man erkennt die­sen an der fran­zö­si­schen Nationalflagge, die am 14. Juli gehisst wird). Und dann kommt sie wie­der, die hüb­sche Greisin mit Dutt und Stock und ganz in Schwarz geklei­det. Sie trau­ert, nur weiss der Zuschauer nicht war­um. Der alte Monsieur von Zimmer 508 ist plötz­lich ganz ange­tan von sei­nem ein­sti­gen Störfaktor, nur weiss der Zuschauer nicht war­um.

Und dann beginnt die Liebesgeschichte der bei­den Altersheimbewohner. Sie tan­zen und rau­chen und sau­fen und sie macht einen Striptease und steht plötz­lich in einem knap­pen Leo-Print-Body auf dem Bett und er wippt mit sei­nem Gehstock zur pop­pi­gen Musik und alles ist plötz­lich vol­ler Leben. Aber so rich­tig lustig wird das Ganze nie wäh­rend den fünf­und­sech­zig Minuten Spielzeit. Es wird gar noch schreck­lich trist: Filmaufnahmen aus den Fünfzigern und Sechzigern wer­den auf eine Bühnenwand pro­ji­ziert, unter­malt von sanf­ten Pianoklängen. Ein wun­der­ba­res Stilmittel, das schön­ste Element von «Les Vieux Os» über­haupt. Aber eben schreck­lich trau­rig.

Wo gehen sie hin?

Gespielt wer­den die alte Dame und der betag­te Herr von den jun­gen Schauspielern Françoise Purnode und Laurent Clairet. Letzterer ist auch für die Gestaltung des Bühnenbildes ver­ant­wort­lich und spielt zu Beginn den Raumpfleger. Purnode und Clairet über­zeu­gen glei­cher­mas­sen durch Körperbeherrschung und Authentizität. Sie bewe­gen sich wie Alte, sie atmen und sie blicken so. Am Schluss ster­ben sie bei­de. Er zuerst, dann sie. Es ist kei­ne Überraschung. Aus dem Altersheim führt nur die­ser Weg, der Weg ins Jenseits. Und für die Zuschauer führt der Weg raus in das dunk­le Zürich an den Limmatplatz, wo sich die Jungen ver­ab­re­den, um sich ins Nachtleben zu stür­zen. Die Alten, die war­ten an der Tramstation und man fragt sich im Stillen, wo sie wohl hin­ge­hen?

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