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Melancholie vol­ler Leichtigkeit

Sie set­zen sich in die aller­vor­der­sten Sitzreihen im Theater, blicken gera­de­aus und war­ten. Gesittet, anstän­dig, lei­se. Wie man sich im Theater eben ver­hält. Man war­tet und war­tet, auf eine kah­le, graue Wand star­rend, aus wel­cher ein Rohr her­aus­ragt. Es ist dies das Einzige, das sich bewegt. Es löst sich ganz lang­sam aus der Wand und fällt zu Boden. Stille. Seufzen. Warten. Man beginnt, auf dem Stuhl hin und her zu rut­schen, die Beine über­ein­an­der zu schla­gen, legt den Kopf auf die Seite. Die Langeweile liegt schwer in der Luft und wird förm­lich greif­bar.

Das Bewegungstheater der «Compagnia Spettatori», her­vor­ge­gan­gen aus der Scuola Teatro Dimitri, beginnt den Abend «Im Hochhaus», der Kleinkunstbühne des Migros-Kulturprozent, mit ganz klei­nen Bewegungen. Sie zeu­gen von Scheu, Anstand und Etikette. Denn schliess­lich sit­zen die «Spettatori» im ver­meint­li­chen Zuschauerraum eines Theaters und war­ten auf den Beginn einer Vorstellung. Doch als lan­ge nichts pas­siert und man auch auf den Nachbarsitzen immer weni­ger einen Hehl dar­aus macht, dass man voll­kom­men gelang­weilt ist, wei­chen sich Scheu und Hemmungen immer mehr auf. Die Spettatori wer­den unru­hig, zucken mit den Schultern, stup­fen ein­an­der an und ste­hen sogar auf. Als bald durch ein Missgeschick eine rote Kiste vol­ler Gerümpel mit­ten unter den Zuschauern steht, ist die gan­ze Aufmerksamkeit der Spettatori nur noch auf die­se Kiste gerich­tet. Da kom­men plötz­lich Schläuche, Giesskannen, Abflussohre und Pinsel zum Vorschein. Und was machen die soge­nann­ten Zuschauer mit dem Zeugs? Musik natür­lich. Sie musi­zie­ren und tan­zen und sprin­gen in akro­ba­ti­scher Manier zwi­schen den Stuhlreihen umher. Es wirkt wie ein kur­zer, hef­ti­ger Ausbruch aus dem Zwang des Anstandes. Man ver­sucht ver­zwei­felt, der töd­li­chen Langeweile zu ent­kom­men und pru­stet mit Freude und Inbrunst in Schläuche und Kannen.

Kleine Geschichten

Bis sie eine Stimme über ein Megaphon wie­der zur Sittlichkeit auf­ruft und in ihre Zwangsjacke des Anstandes zurück schickt. Sie sol­len sich wie «kul­tu­rel­le Leute» ver­hal­ten, lau­tet der Befehl. Die Künstler blicken ver­dutzt um sich, stecken die Instrumente weg, zup­fen die Kleider zurecht und set­zen sich gesit­tet auf ihre Plätze. Dieses Spiel wie­der­holt sich immer wie­der, aber immer wie­der auf eine voll­kom­men ande­re, neue Art. Regelmässig bre­chen die Theaterleute aus der Steifheit des war­ten­den Zuschauers aus, las­sen ihrem Bewegungs- und Entdeckungsdrang frei­en Lauf und gehen schein­bar kom­plett in ihrer Tätigkeit auf. Dabei wer­den zahl­rei­che klei­ne Alltagsgeschichten erzählt. Über Träume, Liebe, Eifersucht, Hoffnung und Enttäuschung.

Dadurch erhält das anfangs sorg­lo­se Lustspiel eine bestimm­te Schwere und Melancholie, ohne die Leichtigkeit ganz auf­zu­he­ben. Diese liegt nicht zuletzt in den Bewegungen die­ser Artisten, die stets geschmei­dig aber kraft­voll, weich aber deut­lich wir­ken und in ihrer rei­nen Form beein­drucken. Wie Federn schwin­gen sich die ehe­ma­li­gen Dimitri-Schüler durch die Lüfte, krie­chen wie Regenwürmer auf dem Boden und klet­tern wie Spinnen die Wände hoch.

Vielfältige Talente

Leicht wir­ken trotz höch­stem Anspruch dane­ben auch der Wechsel der Rollen und die Vielfalt der gezeig­ten Talente der Spettatori. Waren sie gera­de eben noch am Singen, stan­den sie gera­de noch am Cello, tan­zen sie plötz­lich mit­ten auf der Bühne oder klet­tern auf der gegen­über­lie­gen­den Seite bis zu den Scheinwerfern hin­auf. Alle musi­zie­ren auf ver­schie­de­nen Instrumenten und tan­zen gegen meh­re­re Elemente an. Und als sie zum Schluss erschöpft im Publikum Platz neh­men und die­ses sogleich zu kräf­ti­gem Applaus ansetzt, rea­li­sie­ren sie erst, dass sie gera­de sel­ber die Vorstellung bestrit­ten haben, auf die alle die gan­ze Zeit gewar­tet hat­ten.

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