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Ein gebro­che­ner Phallus? Holy Shit!

Es ist gol­dig. 23 Karat. Es liegt da wie ein Häufchen Elend. Ein gol­di­ges Elend. Doch was ist es? Eine Wurst, ein gebro­che­ner Phallus? Der Name ver­rät es: Holy Shit. Kacke wert­voll gemacht qua­si. Was sagt es aus? Leute, schaut hin­ter die Fassade! Kratzt nicht nur an der Oberfläche! Nicht alles was glänzt, ist Gold! Oder in den Worten der 35-jäh­ri­gen Künstlerin Carol May: «Ich möch­te, dass die Menschen nach­den­ken und reflek­tie­ren». Gut. Das pas­siert unaus­weich­lich, wenn man Holy Shit betrach­tet. Man denkt: «Oh, das ist hübsch, lusti­ger Name, ui nein pfui, das ist ja Kacke, Holy Shit! Jetzt ist es nicht mehr schön» So merkt der Betrachter, wie ober­fläch­lich er schaut und emp­fin­det. Er schämt sich ein biss­chen und geht ein Kunstwerk wei­ter.

Sie kamen, sahen und staun­ten

Im KunstRaum R57 in Zürich Wipkingen hat man bis zum 17. Dezember reich­lich Zeit von einem Kunstwerk zum näch­sten zu gehen. Denn die schmucke Galerie zeigt 106 Werke von 37 Künstlern. «Bildwelten» heisst die Gruppenausstellung und wird zum fünf­ten Mal von Kurator Ruedi Staub orga­ni­siert. Dieser hat ein Händchen für Präsentation: Der Raum ist gera­de­mal 18 Quadratmeter gross. Das ent­spricht etwa einem Drittel eines Zugwaggons ohne Sitze.

Darin hän­gen, ste­hen und lie­gen 106 Erzeugnisse der zeit­ge­nös­si­schen Kunst. Und die wur­den unter­schied­lich her­ge­stellt: Acryl auf Zeitung, Inkjet auf Büttenpapier, Öl auf Leinwand, Öl auf Holz, Stempel auf Papier, Fotografie, Sieb- und Laserdruck, Collage, Radierung und Audioinstallation. Alles an der Vernissage am ersten Dezember erst­mals prä­sen­tiert. Sie kamen, sahen und staun­ten, der Laie, der Kritiker und der Künstler.

Ein Termin ist ein Berg?

«Und, haben sich die 13 Minuten gelohnt?», frag­te ein Mann Mitte vier­zig, Berner Zunge, coo­le Wollmütze, war­me Augen. «Ja, voll», ant­wor­te­te eine jun­ge Frau. Diese sass zuvor in einer Vitrine in der Galerie und hör­te sich die gut 13minütige Audioinstallation von Künstlerin nico lazú­la an – «Ein Vogel ist ein Haus. Ein Termin ist ein Berg». Eine span­nen­de Erfahrung, eine abschot­ten­de und inte­grie­ren­de zugleich. Da sitzt man in einem klei­nen Glashaus, kein Platz, um Arme, Beine, ja gar den Körper zu strecken. Man sitzt ein­fach auf dem Stuhl und lauscht der Frauenstimme, die mal flü­stert, um dann wie­der von ohren­be­täu­ben­den Geräuschen über­tönt zu wer­den.

Während des Zuhörens blickt man nach aus­sen und beob­ach­tet die Gäste der Vernissage, man sieht deren Lippen bewe­gen, deren Hände gesti­ku­lie­ren, deren Augen fun­keln, aber man ist nicht Teil davon. Sondern: Man wird Teil des Kunstwerks, dort in der Glasvitrine, und die dort draus­sen wer­den irgend­wie auch Teil der Installation, ein gros­ses Durch- und Miteinander, wobei die unbe­kann­te Frauenstimme den roten Faden bil­det. Sie ist qua­si Zugpferd. Man fragt sich: Was bil­det den roten Faden in der heu­ti­gen lau­ten und gros­sen Welt? Wem fol­gen wir? Warum fol­gen wir? Es ist ein nach­hal­tig wir­ken­des Werk, die­se Audioinstallation von nico lazú­la. 13 Minuten akti­ver Abwesenheit wert.

Zürcher Ton: «Pfui, das ist ja schreck­lich!»

Einen Besuch wert ist er sowie­so, Ruedi Staubs 18 Quadratmeter klei­ner Kunst-Mikrokosmos. Hier begeg­net man ein­an­der – Laie, Kritiker, Künstler. Hier darf man Fragen stel­len und ver­dutzt vor einem Werk ste­hen, anecken qua­si. Das ist in impo­san­te­ren Galerien nicht immer erwünscht, man fühlt sich beob­ach­tet. Oder an Kunstmessen wie der soeben statt­ge­fun­de­ne Kunst 11 in Oerlikon. Dort fühlt man sich irgend­wie gezwun­gen, alles schlecht und schreck­lich zu fin­den und das vor dem Werk selbst noch zu offen­ba­ren. Das gehört anschei­nend zum guten Ton. Dem Zürcher Ton. Oder gar allen Tönen?

In Ruedi Staubs Kunststube darf man alles sagen und fra­gen. Nur die Frage nach sei­nem Lieblingsobjekt beant­wor­tet er nicht, das wäre gemein, unfair und sowie­so die Aufgabe des Kritikers. Und das hat die­ser an die­ser Stelle soeben getan und über­reicht das Wort nun an den Leser. Und dies mit einem Tipp: Am 9. Dezember um 19 Uhr führt die Künstlerin nico lazú­la eine Intervention in ihrer Vitrine durch. Nur so viel. Da soll­ten sie hin, der Laie, der Kritiker und der Künstler.

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