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«Der Tod ist nicht das Äusserste»

Zu den «Wahlverwandtschaften» von Literatur und Musik laden das Tonhalle-Orchester Zürich und das Literaturhaus Museumsgesellschaft Zürich regel­mäs­sig ein. In die­sem Rahmen wur­de am 3. Juni das Stück «Alles, was besteht» von Jenny Erpenbeck (Text) und Cathy Milliken (Komposition) urauf­ge­führt. Die Zuhörer erleb­ten eine anspruchs­vol­le Matinee, die fast schmerz­haft nahe an den Abschied einer Tochter von ihrer Mutter her­an­führ­te. Ein sechs­köp­fi­ges Ensemble unter der Leitung von David Bruchez-Lalli sorg­te für die instru­men­ta­le Umsetzung.

Die stu­dier­te Oboistin Milliken lässt Martin Frutiger am Englischhorn als Ersten ein­set­zen. Jürg Luchsinger ver­stärkt die sphä­ri­schen Klänge auf dem Knopfakkordeon. Als die Sopranistin Yvonne Friedli beginnt, sucht der Zuhörer einen beglei­ten­den Text. In die gedehn­ten Silben fal­len die Sprecherinnen Silvia Fenz und Laura Tonke ein. Sie beschrei­ben Tests, um den Tod eines Menschen fest­zu­stel­len: Die Reflexe blei­ben aus.

Dialogische Rückblenden

Die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck lässt in dia­lo­gi­schen Rückblenden das Verhältnis zwi­schen Mutter und Tochter noch ein­mal auf­le­ben. Die Mutter lei­det an der Einsamkeit im Alter. «Wenn ich an mei­ne Mutter den­ke, sehe ich eine Landschaft, die ich von allen am läng­sten kann­te.» Die Tochter, selbst Mutter, über­nimmt die Rolle des weib­li­chen Familienoberhaupts. Immer wie­der kreist das Stück um die Begriffe «Übergang» und «über­ge­hen». Der Sopranistin wer­den gros­se Sprünge und durch­drin­gen­de Rufe abver­langt, was Yvonne Friedli bra­vou­rös mei­stert. Die Sprecherinnen dekla­mie­ren ein Ave Maria. Die Gedanken der Tochter gehen ins Metaphorische. Der Prozess des Sterbens und Abschied Nehmens wird immer beklem­men­der und gip­felt in einer Reminiszenz an die Geburt der Mutter in Ostpreussen, wäh­rend in Treblinka die ersten 7000 Juden ver­gast wer­den. Die Musik umrahmt die Gedanken, nimmt sie auf, ent­wickelt sich dabei wenig auto­nom. Nach 45 Minuten erstirbt der letz­te Laut. «Alles, was besteht, ist wert, dass es zugrun­de geht», lau­tet das voll­ende­te Fazit.

Dichte Komposition

Roland Wächter, Musikredakteur des DRS2, mode­riert im Anschluss ein Gespräch mit den bei­den Urheberinnen des Werks. Es sei ein Text, der einen gros­sen Assoziationsrahmen zulas­se, beschreibt er das Gehörte. Ein Text, der schon in hohem Masse instru­men­ta­li­siert sei. Die Komponistin erwi­dert, dass bereits eine Fülle von Reizen im Text vor­han­den gewe­sen sei. So habe sie die Gesangsstimme als Vorahnung zum Text gesetzt, teil­wei­se sin­ge sie nur Fragmente und Andeutungen.

Für die dich­te Komposition hat sie auch in den Instrumenten sehr ähn­li­che Stimmen gewählt (zwei Bratschen: Antonia Siegers und Johannes Gürth, Ivo Gass, Horn, sowie Christian Hartmann, Schlagzeug), die den­noch gros­se Intervallsprünge zulas­sen. Als Wächter aus­führt, dass der «rela­tiv har­te Text durch die Musik gemil­dert» sei, räumt Jenny Erpenbeck ein, dass er bio­gra­fisch gefärbt und für Aussenstehende eigent­lich eine «Zumutung» sei. Die von Catherine Milliken gefun­de­ne Umsetzung ver­söh­ne sie wie­der mit ihrem Text.

Überzeugender Vortrag

Dem 15-minü­ti­gen Gespräch folg­te eine Reprise des letz­ten Drittels des Stücks, auch weil – so die Begründung – solch moder­ne Musik sel­ten auf die Spielpläne fin­de. Es ist schwie­rig, für eine der­ar­tig per­sön­li­che Offenbarung eine Kritik zu for­mu­lie­ren. «Alles, was besteht» beschreibt eine Familiengeschichte, zu der man einen Zugang fin­den kann, oder auch nicht. Im Vortrag wur­de das Werk von allen Beteiligten vor­bild­lich gemei­stert. Insbesondere die Dialogstimmen waren mit der 72-jäh­ri­gen Silvia Fenz und der 38-jäh­ri­gen Laura Tonke sehr adäquat besetzt. Das Auftragswerk der Tonhalle und des Literaturhauses ent­fal­tet phi­lo­so­phi­sche Reflektionen und regt eige­ne Assoziationen an. Dennoch bleibt die Frage offen, was jetzt eigent­lich das Äusserste sei.

Das Konzert wird am Sonntag, 24. Juni, um 21 Uhr auf DRS2 gesen­det.

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