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Experimentelle Reizinvasion

Clownnasen zie­ren die Statuen links und rechts vom Bühnenrand im Theatersaal des Casinotheaters Winterthur. Um sie her­um hängt eine bun­te Lichterkette, die wäh­rend des Stücks kein ein­zi­ges Mal zum Leuchten gebracht wird. Selbstbewusst wird die Bühne und das Drumherum von sechs Künstlern annek­tiert, die, ein­mal abge­se­hen von der erlo­sche­nen Lichterkette, offen­sicht­lich kei­ner­lei Art von Reizüberflutung fürch­ten.

Die Bühne ist näm­lich kom­plett voll­ge­stellt. Eine alt­mo­di­sche Schrankwand, ein weis­ses Sofa in der Mitte, Tische mit Mischpult und einem Wirrwarr an Kabeln, Lampenschirme in ver­schie­de­nen Farben und Grössen. Und Puppen: Schaufensterpuppen und Mädchenspielzeug, mit Perücken, Mützen oder kei­nes von bei­dem. Ein bei­ges Barbie-Pferd dort, ein rie­si­ger, leicht schmut­zi­ger Plüschelefant hier. Er trägt rosa Unterhosen.

Eine Reihe von Einzelauftritten

Auf dem Sofa sit­zen jene sechs Menschen, wel­che für das Chaos auf der Bühne ver­ant­wort­lich sind. Die Slam-Poeten Theresa Hahl und Nico Semsrott, Clown Hacki Ginda, der Berner Rapper Knackeboul, der Musiker Ludwig Berger und Irina Dubach, die sehr stil­le Tänzerin. Unter der Regie von Daniel Wahl haben sie sich ein­ge­fun­den, um eine bun­te Collage rund ums Thema des Erwachsenwerdens zu gestal­ten, oder, mit den Worten des Regisseurs, um ein «Theater-Konzert-Party-Talk 1,2,3,-Show-Gruselkabinett zum Thema Jugend» zusam­men zu zim­mern.

Hierzu macht jeder der Protagonisten ganz ein­fach das, was er oder sie am besten kann. Theresa Hahl rezi­tiert fein­füh­li­ge und sprach­lich sehr prä­zi­se Texte, wel­che durch die Aufrichtigkeit, mit wel­cher sie vor­ge­tra­gen wer­den, berüh­ren. Nico Semsrott, der dau­er­haft Depressive im schwar­zen Kapuzenpulli, liest sei­ne düster sar­ka­sti­schen Weisheiten ab Blatt, mit einer Stimme, die an Gleichgültigkeit kaum zu über­tref­fen ist. Währenddessen unter­le­gen Ludwig Berger und Knackeboul die Texte der ande­ren Protagonisten mit elek­tro­ni­scher Musik und lei­sem Beatboxen. Sie toben sich an tech­ni­schen Geräten wie Kameras, Turntables und Computern aus. Gleichzeitig läuft im Hintergrund ein Film aus einem Gruselkabinett mit sich moto­risch bewe­gen­den Schaufensterpuppen.

Ist die­ses Stück zum Lachen kon­zi­piert? Ja und Nein. Ja, wenn man an die Kunststücke und Witze der Ulknudel Hacki oder die tra­gi­sche Komik von Semstrotts Deprosprüchen denkt. Nein, wenn Knackeboul von sei­ner schwe­ren Jugend ohne Vater rappt, wenn Theresa Hahl bedau­ert, dass ihr Bruder zum Anzugs- und Zahlenmenschen ver­kom­men ist. Die ver­ein­zel­ten Tanzeinlagen Irina Dubachs wir­ken stür­misch und empört. Und düster sind vie­le der bear­bei­te­ten Themen. Es geht um ver­ra­te­ne Träume, um ver­ges­se­ne Freuden. Semsrott fragt ent­täuscht: «Was ist mit einer Gesellschaft los, in wel­cher der Ausdruck ‚Sich das Leben neh­men’ etwas Negatives bedeu­tet?»

Die Künstler schei­nen der Jugend bereits ent­wach­sen, aber noch nir­gends ange­kom­men zu sein. Sie sind ein­sam, obwohl nie allei­ne auf der Bühne. Jeder denkt, spricht und phi­lo­so­phiert für sich, Interaktion geschieht dann, wenn einer den ande­ren durch Worte oder Gesten stört. Es sind indi­vi­du­el­le Auftritte, lose ver­bun­den durch Tanzeinlagen oder gemein­sa­me Songs, für wel­che sich alle die­sel­ben, grau­en Perücken auf den Kopf set­zen. Die Darsteller sor­gen kon­ti­nu­ier­lich für Action und schla­gen in der Abfolge visu­el­ler und aku­sti­scher Eindrücke ein immenses Tempo an. Slam-Poetin Theresa Hahl sagt pas­send dazu ein­mal: «Wir soll­ten irgend­et­was tun, sonst erle­ben wir nichts». Und dann, kurz nach der Pause reicht es Nico Semsrott: «Ich habe kei­nen Bock mehr, was vor­zu­tra­gen. Voll die unkri­ti­sche Show hier, ich steig aus».

Ein Moment der Erkenntnis

Ab die­sem Moment der Verweigerung kommt Interaktion in die Sache. Theresa Hahl ver­tei­digt belei­digt ihre Texte und Ansichten, Hacki ist die­ser Disput vor Publikum pein­lich. Plötzlich begin­nen alle, mit­ein­an­der zu spre­chen, unge­zwun­gen und spon­tan wirkt die kur­ze Diskussion über den Sinn eines sol­chen Theaters. Ein raf­fi­nier­ter Verfremdungseffekt? Sicher ein geeig­ne­ter Regietrick, der den Zuschauer auf­weckt und ihm gleich­zei­tig eine Denkrichtung vor­schlägt und die Eindrücke etwas zu ord­nen ver­mag: Alles ist Wunderland, Wunderland ist über­all dort, wo wir es ent­decken. Wunderland lebt von der Spontanität jun­ger Künstler, von Mützen, Perücken und Sonnenbrillen. Wunderland ist die sowohl die klas­si­sche Tanzeinlage im Tutu, aber auch das mit dem iPhone auf­ge­zeich­ne­te Video des Publikums, live, auf Facebook gepo­stet.

Wenn Poetry-Slam-Theater einen neue Gattung ist, dann funk­tio­niert sie wohl so. Sie braucht kei­nen roten Faden, kei­ne Dramaturgie, kei­ne Handlung, kei­nen Dialog. Da kön­nen dann auch plötz­lich fünf schwarz mas­kier­te Männer die Bühne stür­men und auf die Leinwand hin­ter der Bühne die Worte spray­en: «NIMM dir das Leben». Im posi­ti­ven Sinne.

Und wenn nicht? Dann ist «Alles ist Wunderland» ein­fach ein chao­ti­sches, unter­halt­sa­mes und aus­bau­fä­hi­ges Experiment.

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